Paradise # 52

Wolfsherz

© Mathias "Cevetan" Langenegger

Cari fluchte leise vor sich hin. Wahrscheinlich zum fünfzigsten Mal wünschte sie ihren Chef zur Hölle. Um drei in der Nacht hatte er sie angerufen und etwas von seltsamen Vorgängen in Central Detroit erzählt und sie solle gefälligst ihren faulen Hintern aus dem Bett schwingen um sich das anzusehen. Cari schnaubte zornig, während sie den Highway verließ und in die 8th Avenue einbog. Sie gähnte herzhaft und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Blick wanderte über die Straßenränder.
Im silbrigen Licht des Vollmonds sahen die Schatten zwischen den heruntergekommenen Wohnblocks merkwürdig anders aus: Kalt, schwarz, tödlich. In einer Seitenstraße bemerkte sie, wie ein Hund im Abfall wühlte. Ein großer Hund.
Irritiert blickte sie sich noch einmal um, aber es war nichts mehr zu sehen außer der leeren Straße. Cari schüttelte den Kopf um die düsteren Gedanken zu vertreiben und rieb sich die müden Augen, während sie sich zum wiederholten Mal fragte, was wohl so wichtig sein könnte, dass ihr Boss sie während des Urlaubs und mitten in der Nacht quer durch Detroit schickte.
Endlich hatte sie das Polizeirevier im 21. Bezirk erreicht. Wenigstens war es um diese unselige Zeit kein Problem einen Parkplatz zu bekommen. Die Umgebung schien wie ausgestorben, nur zwischen den Jalousien des Polizeireviers war etwas Licht zu sehen. In dieser heruntergekommenen Gegend wirkte aber selbst das trostlos.

Cari zog noch einmal ihren Rock zurecht und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Laut hallte das Klacken ihrer Absätze vom bröckelnden Putz des Treppenhauses wieder. Erst als sie die alte Schwingtür am oberen Absatz aufdrückte, hörte sie wieder Geräusche anderer Menschen. Irgendjemand schrieb hier noch mit einer alten Schreibmaschine. Nach einem kurzen Rundblick trat sie auf die Empfangstheke zu. Die junge Polizistin, die dort stand hob den Kopf.
"Was kann ich für Sie tun, Ma’am?"
Cari räusperte sich kurz.
"Ich bin Special Agent Sorda vom FBI, Sonderabteilung. Ihr Chief hat uns angerufen."
Die Züge der Polizistin hellten sich auf.
"Einen Moment bitte."
Sie telefonierte kurz und sofort kam ein älterer Polizist, wohl so um die fünfzig, mit schon leicht ergrauten Haaren aus einem Büro. Der Mann erinnerte sie an ihren Onkel. Es lag vielleicht nur an den hochgekrempelten Hemdsärmeln und den ungekämmten Haaren. Er schüttelte Cari die Hand.
"Chief Cignoni, Miss Sorda! Tut mir leid, dass Sie unseretwegen so früh aufstehen mussten, aber ich glaube, Sie werden bald verstehen."
Cari sah, dass er lächelte, aber sie merkte, wie schwer es ihm fiel. Mit forschendem Blick sah sie ihn an.
"Was ist passiert, dass sogar ein alter Cop wie Sie sich mit dem FBI einlässt?"

Chief Cignoni lachte kurz und freudlos, während er sie in einen kleinen Raum führte. Es war einer jener Räume, in denen man durch ein Fenster unerkannt das Geschehen im Verhörraum verfolgen konnte. Der Chief deutete auf einen alten verwahrlosten Mann mit verfilzten gelblich grauen Haaren, der sichtlich verängstigt auf einem klapprigen Stuhl saß und mit zitternden Händen eine Kaffeetasse umklammerte.
"Dieser Mann ist ein hier bekannter Penner namens Joe Brown, genannt Baba. Eine Streife hat ihn heute Nacht in der 49. Straße aufgesammelt. Er lief einfach auf der Straße und gab undefinierbare Laute von sich. Es war offensichtlich, dass er unter Schock stand. Die Streife hat dann bei einer kurzen Suche in der Umgebung drei schrecklich zugerichtete Leichen gefunden. Wir vermuten, dass Mister Brown Zeuge des Verbrechens war, aber das was er uns bis jetzt erzählt hat ist, vorsichtig ausgedrückt etwas ungewöhnlich."
Cari kannte diesen Gesichtsausdruck. Es war jener, den Leute hatten, die eigentlich nicht glauben konnten, was sie hörten.
"Kann ich mit ihm sprechen?" Sie wandte ihren Blick wieder dem alten Mann zu.
Der Chief nickte zur Tür. "Nur zu, dafür sind Sie schließlich hergekommen."

Der Kopf des Alten fuhr herum, als Cari die Tür öffnete. In seinen weit aufgerissenen Augen war ein namenloser Schrecken zu erkennen. Sie gab ihm Gelegenheit zu erkennen, wer da jetzt vor ihm stand, dann trat sie einen Schritt auf ihn zu und biss die Zähne zusammen. Der Obdachlose entwickelte eine Duftnote, die irgendwo zwischen voller Mülltonne und Schweißfüßen lag. Mühsam rang sie sich ein Lächeln ab.
"Guten Morgen Mister Brown. Mein Name ist Cari Sorda und ich bin Mitglied einer Sonderabteilung des FBI. Ich bin hier um mir ihre Geschichte anzuhören."
Sie überwand sich und streckte ihm die Hand entgegen. Baba Brown schaute von Caris’ Hand in ihr Gesicht und gab dann ein schnaubendes Geräusch von sich.
"Pah, seit wann brauchen die Bullen denn eine durchgeknallte Schnüfflerin um ’nen alten Mann für verrückt zu erklären? Sie packen das eh nicht, was ich da erlebt hab’. Suchen Sie wieder nach ihren Außerirdischen!"
Cari ließ ihre Hand sinken und setzte sich dem zornigen Mann gegenüber. Tief sah sie ihm in die Augen.
"Mister Brown, keiner glaubt, dass Sie verrückt sind, sonst wäre ich nicht hier. Ich bin keine Psychologin, sondern Special Agent. Ich komme ins Spiel, wenn die Cops nicht mehr weiter wissen."
Der Alte nahm jetzt ihren Blick auf und scheinbar minutenlang starrten sich beide an, dann brach er das Schweigen.
"Na gut, werd’ Ihnen also erzählen, was ich gesehen hab’!"

Seine anfangs zittrige Stimme festigte sich zusehends.
"In einem der leerstehenden Häuser an der 49sten hab’ ich mir so was wie ’ne kleine Wohnung eingerichtet und ich wollte mich grade hinhauen, da hab’ ich von der Straße jemand reden hören. Hab’ natürlich nachgeschaut, wer sich da rumtreibt. Waren drei so Schlägertypen von ’ner recht üblen Gang. Hatten ein kleines Gör umzingelt, weiß der Deibel, was die so spät noch auf der Straße wollte. Die Schweine wollten sich anscheinend ein wenig mit der Kleinen vergnügen. Konnte ich natürlich nich’ zulassen und wollte rausgehen und die Kerle zusammenscheißen..."
Der Alte bemerkte Caris’ hochgezogene Augenbraue und kicherte kurz.
"Tja, der alte Knacker, der da vor ihnen sitzt, hat da draußen ziemlich was zu melden. Hab’ schon vielen Leuten geholfen, die mir jetzt was schulden und da sind ein paar dabei, mit denen will sich keiner anlegen."
Sein Blick verdüsterte sich.
"Wollte also grade raus, da..."
Die Stimme schien ihn für einen Augenblick zu verlassen und mit zittriger Hand trank er einen Schluck Kaffee. Cari lächelte den Alten beruhigend an.
"Lassen Sie sich Zeit, ich bin nicht hier um Sie zu quälen, aber ich muss unbedingt wissen, was dann passierte."
Baba Brown schnäuzte sich in ein dreckiges Taschentuch und schniefte noch einmal.
"Danke. Tja, ging alles so schnell dann. Einer der Kerle hatte die Kleine am Kragen gepackt und ich wollt’ grade rufen, da war das Mädel auf einmal weg ... und ... da war dieses Riesending! Schwarz und groß wie’n Schrank und das Ding hat gebrüllt; das ging einem durch Mark und Bein sage ich Ihnen. Und dann hat das Ding die Jungs ... einfach zerlegt! Die konnten nicht mal mehr Pieps sagen, geschweige denn wegrennen! Dieses Vieh hat ..."
Plötzlich schüttelten Weinkrämpfe den alten Mann, als er sich wieder erinnerte, was er dann gesehen hatte.
Cari war irritiert. "Können Sie dieses "Ding" genauer beschreiben?"
Der Alte schüttelte den Kopf.
"Ging alles viel zu schnell."
Cari seufzte.
"Schon gut Mister Brown. Das reicht vorerst. Vielen Dank für Ihre Zusammenarbeit."
Schluchzend sah er auf, während sie aufstand um zu gehen.
"Passen Sie auf sich auf, Miss!"
Er griff ihre Hand und schüttelte sie. Cari lächelte dünn.
"Keine Sorge, ich bin schon ein großes Mädchen!"

Vor der Tür wartete schon Chief Cignoni auf sie.
"Na, was meinen Sie?", fragte er mit hochgezogener Augenbraue.
Cari musste erst mal tief durchatmen.
"Hmm, es kommt mir eigentlich nicht so vor, als hätte er sich das ausgedacht..."
Sie zögerte.
"Kann ich mir die Leichen der drei Kerle anschauen?"
Der Chief blies schwer Luft durch die Backen, während er sich am Kopf kratzte.
"Na gut, aber auf ihre Verantwortung! Kommen Sie mit!"
Etwas verwirrt ob dieser Reaktion folgte Cari dem Polizisten durch das Gebäude, bis sie die Pathologie erreichten.

In einem kahlen Büro saßen zwei müde Männer in blutigen, ehemals weißen Kitteln am Tisch und tranken etwas, das nach Kaffee extrastark roch. Als die Tür sich öffnete, sahen sie auf. Anscheinend hatten die Männer ihre Pause gerade erst begonnen, denn Cari fiel auf, dass das Blut auf den Handschuhen im Mülleimer noch frisch glänzte.
Chief Cignoni trat an ihren Tisch.
"Morgen Jungs! Darf ich vorstellen, Dr. Crowley, Dr. Phillips, das ist Special Agent Cari Sorda vom FBI. Sie ist hier, um etwas Licht in diese seltsame Angelegenheit zu bringen. Seien Sie so nett und zeigen Sie uns die gefundenen Leichen."
Nachdem man sich die Hände geschüttelt hatte, sah Dr. Crowley Cari etwas schief an.
"Wie viele Leichen haben Sie denn schon gesehen?"
Cari zögerte.
"Naja, ein paar schon!"
Der Pathologe lachte und drückte ihr einen Eimer in die Hand.
"Na, dann wollen wir mal!"
Sie gingen alle in den Obduktionsraum, in dem auf drei Tischen Körper unter blutgetränkten Tüchern lagen. Dr. Phillips schlug eines der Laken zurück.
Geduldig warteten die Ärzte und der Chief, bis sich Caris’ Magen wieder beruhigt hatte. An einem Waschbecken spülte sie sich den Mund und verfluchte sich innerlich für diese kindische Reaktion.
"Das ist ja grauenhaft!"
Der Pathologe grinste freudlos.
"Und das ist noch der Gesündeste. Einmal abgesehen von den ungewöhnlich großen Rissen und den Brüchen, die bei allen dreien zu finden sind, gehen wir bei diesem davon aus, dass er an ... sagen wir "Herzversagen" starb."
Der Chief warf ihm einen bösen Blick zu.
"Bob, jetzt ist wirklich nicht die Zeit für schlechte Pathologenwitze!"
Dr. Crowley zuckte mit den Schultern.
"Macht der Gewohnheit! Tut mir leid! Es ist so, dass irgendetwas mit bloßer Gewalt den Brustkorb des Mannes durchschlagen und dann sein Herz schlichtweg zerquetscht hat, wie Sie hier sehen können."
Cari wurde wieder blass um die Nasenspitze, als der Doktor die Überreste des Herzens zeigte, konnte sich diesmal aber zusammenreißen.
"Was ist mit den anderen beiden?" quetschte sie zwischen den Zähnen hervor.
"Tja, dem einen hat jemand den Schädel zerschmettert und dem anderen wurde der Kopf abgebissen."
Cari schluckte schwer.
"Abgebissen???"
Dr. Phillips deckte den Leichnam wieder ab.
"Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber so unglaublich es auch klingen mag, so wird es wohl bald im Bericht stehen. Wenn Sie wollen können Sie sich das auch noch ansehen!"
Matt winkte Cari ab.
"Ich weiß, die Frage ist wahrscheinlich nutzlos, aber haben Sie eine Ahnung, was diese Verletzungen verursacht haben könnte?"
Die Pathologen zuckten mit den Schultern.
"Ein Vier-Zentner-Gorilla wäre dazu vielleicht im Stande, aber das ist wohl nicht sonderlich wahrscheinlich. Was noch auffällt ist, dass bei allen drei Opfern der Unterleib völlig zerstört wurde."
"Wie bitte?"
Cari starrte Dr. Phillips entgeistert an.
"Ja, da hat sich jemand kräftig ausgetobt, aber unsere Untersuchungen sind noch nicht beendet. Sie können später alles in unserem Bericht lesen. Vielleicht wissen wir dann auch schon mehr über den Ursprung der Verletzungen. Momentan wissen wir selbst nichts Genaues."
Immer noch etwas wackelig auf den Beinen ging Cari mit dem Chief zurück.
"Sagen Sie mal Chief, wie stecken Sie solch einen Anblick so locker weg?"
Cignoni grinste sie schief an.
"Ganz einfach! Hab’ beim ersten Mal schon alles rausgekotzt! Wo nichts mehr ist, kann nichts mehr kommen."

Mittlerweile war es draußen hell geworden und Cari hatte das Polizeipräsidium verlassen um sich am Fundort der Leichen umzusehen. Während ihr Auto vom Parkplatz rollte, verließen zwei Telefongespräche das Präsidium. Beide hatten Caris’ Besuch zum Thema und beide verhießen nichts Gutes.
Das letzte Stück bis zum Tatort musste Cari laufen, denn die Straße war durch herumliegenden Müll und etliche Trümmer für ihr Auto unpassierbar. Die Stelle war nicht zu übersehen. Große Blutflecken waren an der Hauswand und auf der Straße zu sehen. Cari suchte die nähere Umgebung ab, aber außer der Behausung des alten Mister Brown konnte auch sie nichts finden, was etwas Licht in die Angelegenheit gebracht hätte. Enttäuscht wollte sie schon wieder gehen, als sie bemerkte, dass sie beobachtet wurde. Auf der anderen Straßenseite stand eine zerlumpte Frau undefinierbaren Alters, die sie unentwegt anstarrte. Cari gestand es sich nur ungern ein, aber das Starren dieser Frau verunsicherte sie. Gerade wollte sie etwas sagen, als ihr die Frau mit krächzender Stimme zuvorkam.
"Was willst du hier? Das ist kein guter Ort um hier zu sein!"
Cari runzelte die Stirn. Was meinte diese seltsame Frau damit? Sie zog ihren Dienstausweis heraus.
"Ich bin Special Agent Cari Sorda vom FBI! Wissen Sie vielleicht etwas über die Vorkommnisse der letzten Nacht hier?"
Die Frau schüttelte wild den Kopf.
"Lass‘ besser deine Finger davon, Kindchen! Geh nach Hause, dann wird Dir auch nichts passieren!"
Cari verstand immer weniger.
"Können Sie mir sagen, wer oder was die drei Männer heute Nacht umgebracht hat? Wenn sie mehr wissen, dann müssen Sie es mir sagen!"
Die Frau schüttelte wieder den Kopf.
"Du willst nicht hören! Vielleicht hast Du ja Glück. So viel Wut! So viel Hass! So viel ... Schmerz! Sie wird sich von dir nicht aufhalten lassen, ihr Blut kocht ..."
Die Frau seufzte traurig und wandte sich zum Gehen. Cari wollte sie aufhalten, als plötzlich drei große zottelige Hunde auftauchten, die sich zwischen ihr und der Frau aufbauten und drohend knurrten. Cari blieb stehen. Als die Frau zwischen den Hausruinen verschwunden war, folgten ihr die Hunde, nicht ohne immer wieder einen warnenden Blick zurückzuwerfen.
Wütend kickte Cari eine verrostete Blechdose davon. Was in Gottes Namen ging hier vor? Kein Wunder, dass man ihre Abteilung angerufen hatte, aber das war ihr erster Fall, bei dem sich nicht schon bald eine logische Erklärung abgezeichnet hatte, ganz im Gegenteil. Mit jedem Moment, mit jeder Begegnung wurde dieser Fall verworrener.

Den ganzen Weg zurück zum Auto hatte sie das Gefühl, als würden die dunklen Fensterlöcher der Häuser sie wie die aufgerissenen Augen eines Toten beobachten. Immer wieder glaubte Cari heimliche Geräusche zu hören. Wütend fuhr sie sich selbst an.
"Reiß dich zusammen! Kaum gibt eine Pennerin wirres Zeug von sich, verlierst du die Nerven!"
Sie atmete tief durch und stieg in ihr Auto. Hätte sie gewusst, dass ihre Sinne sie keineswegs getrogen hatten, dann wäre sie wohl weit weniger ruhig gewesen.
Cari fuhr wieder Richtung Polizeipräsidium.
War es möglich, dass dieses Ding, dass Sie schon öfter zugeschlagen hatte? Sie beobachtete die Umgebung, als ihr ein Lincoln mit getönten Scheiben auffiel, der genau wie ihr Auto so gar nicht in diese Gegend passen wollte. Cari machte die Probe aufs Exempel, bog mehrmals wahllos ab und tatsächlich folgte ihr das Auto. Erst als sie wieder in den Parkplatz des Präsidiums einbog, fuhr der Wagen weiter, aber sie war sich sicher, dass er nicht viel weiter fahren würde.

Cari fand Chief Cignoni im Archiv. Vor ihm lagen etliche Akten der letzten Monate.
"Hoffe, es stört Sie nicht, dass ich schon angefangen habe die Akten durchzuackern. Leider bin ich selbst erst seit ein paar Wochen hier Chief, ansonsten hätte ich mir einen Haufen Arbeit sparen können."
Er reichte ihr einige Schnellhefter herüber.
"In den letzten Monaten wurden immer wieder übel zugerichtete Leichen gefunden, die alle eines gemeinsam hatten: Bei allen war der Unterleib zerstört!"
Cari blätterte durch einige Berichte und sah dann auf.
"Diese Berichte werden alle als abgeschlossen bezeichnet! Hat denn niemand diese Fälle genauer untersucht?"
Cignoni nickte und seufzte.
"Das habe ich mich auch gefragt. Nun, ich habe die Opfer überprüft und wie es scheint, war jemand sehr daran interessiert Spuren zu verwischen, denn von einigen Opfern war nicht einmal der Name herauszufinden. Dafür war es bei anderen einfacher. Bei diesem Teil der Opfer handelt es sich um polizeibekannte Kinderschänder! Anscheinend haben wir es hier mit einem Rachefeldzug zu tun!"
Cari rieb sich die Schläfen.
"Wenn nicht noch mehr dahintersteckt!"
Sie erzählte dem Chief, was sie erlebt hatte. Nachdem sie geendet hatte sah der Cignoni sie verwirrt an.
"Das hört sich tatsächlich seltsam an! Was wollen Sie jetzt machen?"
Cari zuckte mit den Schultern.
"Ganz einfach! Alle diese Morde fanden bei Nacht statt und je voller der Mond wurde, desto häufiger. Heute Nacht ist Vollmond, also werde ich da rausgehen und hoffen, dass ich Glück habe!"
Entsetzt sprang der Chief auf.
"Sie werden da auf keinen Fall alleine gehen, ich werde Sie begleiten!"
Cari schüttelte den Kopf und lächelte. Jetzt erinnerte sie Cignoni an ihren Vater.
"Das geht leider nicht Chief!"
Er runzelte die Augenbrauen.
"Wieso nicht? Hören Sie, Sie müssen hier niemandem etwas beweisen..."
Cari lachte.
"Darum geht es nicht! Es geht schlicht und einfach darum, dass Sie ein Mann sind wie alle Opfer bisher! Ich habe wahrscheinlich eine größere Chance da lebend herauszukommen, wenn Sie nicht dabei sind!"
Ächzend ließ sich Chief Cignoni zurück in den Sessel fallen, während Cari das Archiv wieder verließ.

Die paar Stunden Schlaf bis Sonnenuntergang hatten Cari gut getan. Sie überprüfte noch einmal ihren Revolver und überlegte, was sie diese Nacht da draußen erwarten würde. Als sie losfuhr, sah sie wieder den Lincoln im Rückspiegel. Cari war sich sicher, was auch immer dieses Ding war, es gab hier noch jemanden, der ein Interesse an der Sache zu haben schien. Dieser Jemand war es, der die Spuren bei einem Teil der Opfer verwischt hatte; hier lief etwas noch viel Schlimmeres ab als ein reiner Rachefeldzug. Cari machte ein grimmiges Gesicht. Heute Nacht würde sie die Wahrheit herausfinden.
Endlich hatte sie die 49. Straße erreicht.
Im ausgehenden Licht ihrer Scheinwerfer sah sie eine Ratte in einem finsteren Mauerloch verschwinden. Der Vollmond strahlte von einem wolkenlosen Nachthimmel und tauchte die Szenerie vor ihren Augen in ein unwirkliches blausilbernes Licht. Doch das Licht war es nicht, was ihre Aufmerksamkeit band sondern die Schatten, die diese Nacht umso düsterer machten.
Langsam ging Cari die Straße hinunter, aufmerksam lauschend auf jedes noch so kleine Geräusch. Eine seltsame Kälte begann ihr Herz zu umklammern und eine Frage kämpfte sich wieder nach oben, die sie am liebsten aus ihren Gedanken verbannt hätte.
War sie hier Jäger oder war sie selbst Gejagte?
Die Antwort, die ihr eine leise Stimme ins Ohr zu flüstern schien, wollte ihr gar nicht behagen. Erschrocken fuhr sie herum.
War da ein Geräusch oder hatte sie das Rauschen ihres Blutes in den Ohren genarrt?
Mit angehaltenem Atem lauschte sie. Obwohl dieses Gebiet mit seinen Hausruinen wie ein verlassener Friedhof voller Gerippe wirkte, die ihre Knochen anklagend in den Nachthimmel reckten, so war der Ort doch erfüllt mit den unterschiedlichsten Geräuschen. Dort ein Quieken, hier ein Rascheln. Waren da Stimmen oder war es nur der Wind, der durch die Ritzen pfiff. Cari zwang sich langsam und ruhig weiterzugehen, während es in ihrem Kopf schrie. "Lauf weg!"
Doch da hörte sie es! Schritte! Kein Zweifel mehr möglich. Jetzt war es zu spät um wegzulaufen. Sie legte die Hand auf ihren Revolver. Es war lächerlich, das wusste sie, aber es gab ihr ein klein wenig Sicherheit.

Plötzlich standen sie da. Sie hatten sich aus den Schatten der Wände gelöst und traten ins Licht des Vollmonds. Cari riss ihren Revolver aus dem Halfter.
"Stehen bleiben und Hände hoch! FBI!"
Ihre Stimme klang nervöser, als sie es gerne gehabt hätte, aber angesichts der Tatsache, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug, musste das reichen. Ein dünnes Lachen ertönte, das ihr wie ein Skalpell in die Gedanken schnitt.
Geradezu provozierend lässig machte einer der Männer zwei Schritte auf sie zu. Er trug einen eleganten dunklen Anzug und trotz der nächtlichen Stunde eine dunkle Sonnenbrille. Obwohl er mit dem Rücken zum silbrigen Licht des Mondes stand, leuchtete sein blasses Gesicht schneeweiß. Er begann zu sprechen und seine spöttische Stimme gab Cari das Gefühl, als würde ein Diamant Glas schneiden.
"Aber, aber, Miss Sorda! Wir sind nicht hier um mit Ihnen zu kämpfen. Nehmen Sie die Waffe doch herunter!"
Cari verspürte plötzlich den Wunsch ihren Revolver wieder einzustecken, doch sie spürte auch, dass dieser Wunsch nicht ihr eigener war. Dennoch kostete es sie geradezu übermenschliche Anstrengung die Waffe wieder zitternd auf den Blassen zu richten. Schweiß stand ihr auf der Stirn und nur mühsam konnte sie die Worte hervorpressen.
"Keinen Schritt weiter, oder ich schieße!"
Der Mann mit der Sonnenbrille hob eine Augenbraue.
"Bemerkenswert! Sie sind eine erstaunlich starke Person. Wie ich schon erwähnte, sind wir nicht hier um Ihnen Gewalt anzutun. Wir wollen ihnen vielmehr ein Angebot machen!"
Cari bemerkte, dass der Klammergriff um ihre Gedanken sich etwas lockerte. Ihr fiel jetzt auch auf, dass die Begleiter ihres Gesprächspartners mehr damit beschäftigt schienen, die Umgebung zu beobachten, als auf sie zu achten. Anscheinend war sie nicht die einzige, die sich hier auf feindlichem Territorium bewegte. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
"Ich glaube nicht, dass ich an Ihrem Angebot interessiert bin!"
Der Blasse lachte. Seine weißen Zähne glänzten im Mondlicht, während jeder Ton seines Lachens sie wie ein Pfeil aus Eis durchdrang. Verunsicherung wirbelte ihre Gedanken durcheinander, aber eine Frage begann alles andere in ihrem Kopf zu übertönen. Was für ein Freak war das?
Sein Gesicht wurde wieder ernst.
"Miss Sorda, Sie haben sich hier in Dinge eingemischt, von denen Sie besser die Finger gelassen hätten. Sie sind damit einigen sehr mächtigen Leuten lästig geworden! Aber keine Angst! Wir haben nicht vor Sie zu beseitigen, das würde nur weitere Nachforschungen nach sich ziehen. Die Frage ist jetzt nur: Wollen Sie freiwillig mit uns kommen, um ein Teil der wahren Welt zu werden, die ihnen ganz neue Möglichkeiten eröffnen wird, oder müssen wir Sie zwingen?"
Cari spürte, wie sich der Klammergriff in ihrem Kopf wieder verstärkte, da drang etwas anderes in ihre Gedanken. Sie wandte ihren Blick nach oben und ihre Augen weiteten sich.
Vor der silbernen Scheibe des Vollmonds, die knapp über den Dächern der Häuser stand, zeichnete sich ein zierlicher Schatten ab. Ein kleines Mädchen hockte auf dem Rand des Hausdaches über ihnen und ihre glühenden Augen verströmten eine Aura der Drohung und des Hasses.

Der blasse Kerl fuhr herum, seine Männer zogen Maschinenpistolen unter ihren Mänteln hervor. Cari wusste später nicht mehr, warum sie es getan hatte, aber der erste Schuss, der fiel, kam aus ihrem Revolver. Einer der Männer wurde umgerissen, seine Waffe klapperte auf den Asphalt.
Der Schatten sprang. Ein heller Schrei verwandelte sich in ein tiefes zorniges Brüllen. Aus dem kleinen Mädchen wurde eine gewaltige pelzige Kreatur. Sie prallte wuchtig mit dem wütend fauchenden Freak zusammen. Cari konnte gerade noch zur Seite springen, um nicht von den ineinander verkrallten Wesen zerquetscht zu werden. Feuerstöße aus den Maschinenpistolen pfiffen durch die Nacht. Cari spürte das Adrenalin durch ihre Adern pumpen. Sie folgte ihrem Instinkt und feuerte auf die Männer, bis ihr Revolver leer war.
Sie sah, wie einer der Bodyguards von einem gewaltigen Schlag gegen die Mauer geschmettert wurde. Das Geräusch berstender Knochen würde sie noch lange im Schlaf verfolgen. Alles lief so unglaublich schnell ab, dass sie dem Geschehen mit den Augen kaum folgen konnte. Dann war es auch schon vorbei.
Das pelzige Monstrum kniete auf dem zuckenden blassen Mann, die gewaltigen Pranken fest um seinen Kopf geschlossen. Ein hässliches Geräusch ertönte, als das Wesen ihm den Kiefer brach und unter triumphierendem Geheule zwei lange spitze Eckzähne dem Mond entgegenstreckte. Ein schneller Hieb mit den Klauen folgte, die Bewegungen des Mannes erstarben, sein Kopf rollte davon.
Entsetzt sah Cari mit an, wie der Körper im Zeitraffertempo zu verfallen begann und schließlich nur noch eine Lache aus Staub und Blut übrig war. Den Rücken an die Wand gepresst saß sie zitternd da und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
War das möglich, konnte es tatsächlich sein, dass es in dieser Welt Vampire gab? Vampire und ...

Sie sah sich nach der Kreatur um und erstarrte. Nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht befand sich der Kopf eines riesigen Wolfes. Heiß schlug ihr sein Atem ins Gesicht und Blut tropfte von seinen Lefzen auf ihre Jacke.
Doch das bemerkte Cari kaum. Sie konnte nur in die großen dunklen Augen starren, die bis in ihre eigene Seele zu blicken schienen. Tief sog das Wesen ihren Duft ein.
Endlich brachte Cari etwas heraus.
"Bitte, tu mir nichts!"
Sie bemerkte, dass sie noch immer den Revolver in der Hand hatte und ließ ihn aus ihren verkrampften Fingern gleiten. Vor ihren Augen begann sich die riesige Gestalt zu verwandeln.
Cari hielt den Atem an.
Das Wesen schrumpfte und wurde immer menschenähnlicher, bis letztendlich ein kleines schwarzhaariges Mädchen vor ihr stand. Ein kleines Mädchen in einem zerschlissenen T-Shirt und einer blutigen Sporthose, deren Beine sie gerade wieder zuknöpfte. Um ihren Hals hing eine Kette, an der zwei Zähne hingen. Zähne, wie sie das Wolfswesen dem Vampir aus dem Kiefer gebrochen hatte.
Cari überwand sich und stellte eine Frage, die ihr bis vor wenigen Augenblicken noch völlig verrückt erschienen wäre.
"Du bist eine Werwölfin?"
Das Mädchen sah sie lange durchdringend an und nickte. Zum ersten Mal seit Beginn der Konfrontation keimte in Cari die Hoffnung auf hier doch noch lebend herauszukommen. Vielleicht konnte sie dieses Wesen überreden sie gehen zu lassen. Mit Schaudern dachte sie an das Schicksal des Vampirs.
"Warum tust du das?"
Sie nickte zu den Überresten des Vampirs und seiner Handlanger hinüber. Wieder trafen sich ihre Augen und es schienen Stunden zu vergehen. Die Hand des Mädchens schloss sich um ihre Halskette. Cari sah Wut und Trauer in ihren Augen; sie wusste nicht, ob sie richtig verstand, aber langsam kehrte so etwas wie Mut zurück. Sie wollte wieder Antworten finden.
"Und warum hast du die anderen getötet?"
Wieder starrte das Mädchen ihr tief in die Augen, doch diesmal sah sie nicht Wut oder Hass. Dieses Mal sah sie große Bitterkeit und einen unglaublichen Schmerz. Cari bereute es fast gefragt zu haben, doch jetzt war es zu spät. Die kleine Gestalt wandte sich ab. Eine einsame Träne glitzerte im Licht des Vollmonds. Cari war schockiert. Was musste dieses Kind erlitten haben? Sie ging auf sie zu.
"Es tut mir leid, ich..."
Wütend fauchte das Mädchen und stieß Cari weg. Mit einem Wutschrei schleuderte sie eine der herumliegenden Maschinenpistolen an die Wand. Cari zuckte zurück angesichts dieses Wutausbruchs, dennoch bedauerte sie das Schicksal dieser gequälten Kreatur und sie glaubte langsam ihren Zorn zu verstehen. Geradezu zaghaft stellte sie die entscheidende Frage.
"Wirst du mich töten?"
Dieses Mal sah das Mädchen ihr nicht in die Augen und Cari schien es wie Äonen, bis es wieder den Blick hob, doch diesmal waren es nicht kalte Wut oder schmerzende Trauer, die sie sah sondern ... Unsicherheit. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr, als das Mädchen den Kopf schüttelte. Cari überlegte kurz, was sie jetzt machen sollte. Sie warf einen Blick auf die Überreste des Vampirs und dachte an den eiskalten Griff um ihre Gedanken.
"Ich glaube ich weiß jetzt, wer hier die wirkliche Bedrohung ist und wer nicht."
Zum ersten Mal sah sie die Andeutung eines Lächelns bei der Werwölfin und spürte Erleichterung. Die beiden Frauen sahen sich noch einmal tief in die Augen und Cari spürte, dass sich diese Nacht so etwas wie ein Band zwischen ihnen gebildet, ihr Schicksal miteinander verwoben hatte. Sie sah, wie dieses seltsame Wesen an eine Pfütze trat, in der sich der Vollmond spiegelte.
"Nach wem müsste ich fragen, wenn ich dich wiedersehen wollte?"
Ein leises Lächeln stahl sich auf das Gesicht des schwarzhaarigen Mädchens und zum erstenmal ertönte ihre Stimme in der Stille der Nacht. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden, doch ihr Name hatte sich Cari ins Gedächtnis gebrannt.

"Jessie!"

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Letztes Update dieser Seite am 13. Juni 2003