Paradise 43 - Story
Zeitsturm
© Thomas 'Orbiter Phoenix' Kohlschmidt
Daren rannte über den nassen Asphalt hinüber zum Temporal-Schiff.
Sein Helm scheuerte im Nacken, und Wasser rann ihm über das müde
Gesicht. Seine Bartstoppeln zwickten am Kragenwulst.
"Scheiße", dachte er, "Das wird diesmal knapp."
Er erreichte die Leiter zum Einstiegsschott, wuchtete sich den Rucksack
noch einmal in anderer Position über die Schulter und schaute
gegen den trommelnden Regen nach oben. Die Aggregate des Kampf-Zeiters
glühten bereits, pulsten im Vorwärm-Modus.
Er stemmte sich die Stiegen hoch. Was für ein Gewicht so ein
Einsatz-Pack doch hatte. Schweiß mischte sich in das Wasser
vom Himmel und perlte ihm in die Augen.
Endlich war er oben und im Trockenen. Das Schott fuhr zischend herunter.
"Ah, Daren. Sie sind mal wieder der Letzte! Machen Sie zu, kommen
Sie hier rüber!"
Commander Paulsson stand in voller Montur im Mannschafts-Hangar. Breitbeinig
hatte er sich vor dem Bodenschlepper aufgebaut und funkelte ihn scheinbar
böse an.
"Aye, Sir!" versuchte Daren zackig zu sagen, aber es gelang ihm nur
eine matte, nachlässige Variante.
"Hoffentlich schaffen wir das Auftauchen aus unserem Zeitstrom noch!"
dachte er verzweifelt.
Die alte Angst des modernen Kriegers. Fast konnte man sich die Zeit
der Regional-Kriege zurückwünschen. Da fanden Kriege wenigstens
innerhalb einer Zeit statt und verwüsteten höchstens Lebensräume...
Daren schleppte sich hinüber in 'Reih und Glied', zu den Kameraden,
die schon vor Paulsson strammstanden. Er ließ den Rucksack zu
Boden gleiten und stellte sich in Hab-Acht-Stellung davor, wie alle.
Er spürte ein Vibrieren unter seinen Füßen, das typische
Anspringen der Antriebs-Aggregate. Der Kampf-Zeiter erwachte zum Leben.
"Männer!" schrie der Commander wie immer zu Beginn einer Mission,
"Uns erwartet wieder einmal eine Bergungs-Aktion, 1125 Jahre strom-abwärts."
Daren zog sich der Magen zusammen. Das war einer der umkämpftesten
Temporal-Abschnitte: die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Ära
der ersten Nuklear-Waffen. Jeder hier wußte, daß das eine
von drei Sperr-Zonen war. Zivile Zeitschiffe durften hier nicht in
Eintauch-Geschwindigkeit gehen, räumlich gesprochen.
Daren hatte sich zwar inzwischen daran gewöhnt,
aber es fiel ihm immer noch schwer sich unter einer 'Zeitreise-Geschwindigkeit'
den Grad der Verzerrung des Temporalgefüges vorzustellen und
den sogenannten realitiven Schiffswinkel zum nächsten Zeitstrahl.
"Wir werden zusammen mit der '4. Zeitsturm-Staffel' einfliegen. Cox
und Krauss werden die beiden Geschwader jenseits des Parallel-Stroms
übernehmen. Wir gehen mit diesem und drei weiteren Zeitern direkt
in unseren Strom!"
"Wenn es nur nicht wieder zu einem Cross-Over kommt...", stöhnte
der Mann neben Daren.
"Wenn wir dabei noch in Inter-Zeit sind, könnten wir vielleicht
kompensieren", antwortete er dem Hünen, der aber schüttelte
den Kopf.
Okay, so eine Kompensation hatte erst zwei-dreimal geklappt. Beim
erfolgreichen Zeit-Einsatz kam es eben darauf an, zwischen parallel
in der Inter-Zeit liegenden Temporal-Strömen hindurchzutauchen
und ein Verschlingen ähnlicher Daseins-Schienen zu vermeiden.
Sonst konnte es leicht geschehen, daß Teilwelten des Zeitstrom-Spektrums
zerstört wurden. Die Kriege der letzten Standard-Zeit-Jahre hatte
im Zeitspektrum schon mehrere Tot-Schneisen gerissen.
Daren fühlte Wut in sich aufsteigen. Er würde
seine Heimat in den Weiten der Alternativzeiten bis zuletzt verteidigen.
Er wäre jederzeit und überall bereit für den Erhalt
seiner Realität zu sterben.
Das wäre allemal besser als bei der Rückkehr eine entartete
Realität vorzufinden, in der Inter-Zeit zu stranden oder schließlich
in einen x-beliebigen Zeitstrom hinabzukippen. Wie viele Kameraden
waren schon so verschollen, verschwunden in einem unwirtlichen Teil
des Spektrums.-
Der Zeiter schwang sich, verpackt in ein Kissen aus
Temporalfeldern, Jahrzehnte am Zeitstrahl ihrer Welt zurück.
Der Bereich der Inter-Zeit war visuell nicht zu erfassen. Früher
hatte Daren nach Fenstern im Schiff gesucht und später erfahren,
daß diese erst nach Eintauchen in die Standard-Zeit innerhalb
eines angeflogenen Zeitstroms geöffnet wurden. Dann begann das
räumliche Sehen.
"Im Inter-Zeit-Abschnitt Z52/308 ist unser '27-stes'
in ein Minenfeld der 'Armada' geraten. Hohe Verluste. Abstürze
über einen Zeitraum von 32 Standard-Jahren in unseren Temporal-Strom
hinein. Wir sollen einen der frühesten Abstürze sichern
und bergen! Dazu müssen wir am Minenfeld vorbei und an einer
Einheit mit Gegen-Zeit-Werfern."
"Oh, Mann!" stöhnte der Hüne wieder, "Uns bleibt auch nichts
erspart."
Paulsson warf seinen Kopf herum, fixierte den Soldaten aus bösen
Augen und schlich dann wie ein Panther auf ihn zu.
"Sparen Sie sich Ihre destruktiven Einwürfe, Zeit-Maat Jadan!
Wenn es Ihnen hier zu heiß wird, sollten Sie Ihren gepflegten
Zucker-Arsch vielleicht lieber zur Regional-Marine verfrachten!"
Dann wandte er sich wieder an die zwölfköpfige Mannschaft
ihres Zeiters.
"Besetzt die Geschütze. In fünf bis sechs Minuten Bordzeit
geht es los. Minen-Ortung läuft. Soweit alles klar, noch Fragen?"
"Ja", sagte Daren, "Gibt es Meldungen darüber, ob es bereits
Temporal-Strom-Umlenkungen seit unserem Start gegeben hat?"
"Nein, Daren. Negativ. Wir gehen im Moment davon aus, daß unsere
Heimat existiert. Weswegen sind wir sonst hier?"
"Für Rache, Sir!"
Der Commander sah ihn für Sekunden ausdruckslos an, dann sagte
er: "Das wäre Stufe Zwei. Verlassen Sie sich drauf!"
Daren atmete tief aus. Dieses war das größte Grauen der
heutigen Kriege, wenn es dem Gegner gelang in den frühen Zeitstrom
einzutauchen und den bis dahin natürlichen Gang der Dinge zu
verändern. So zu verändern, daß der Feind der Zukunft
einfach verschwand oder rechtzeitig Sklave wurde. Sollte so eine Manipulation
von der 'Armada' vergenommen worden sein, waren sie mit diesem Schiff
wenigstens noch rausgekommen.-
Ein Ruck lief durch den Zeiter.
Die erste Explosion war erfolgt. Zeitminen waren teuflische Dinger.
Während Daren zu seinem Kampfstand hochstieg, sah er vor seinem
geistigen Auge diese harmlos scheinenden Zylinder auftauchen. Die
'Armada' war seit Beginn des 3. Zeitkrieges auf diese Mordmaschinen
spezialisiert, der 'Zeitsturm' setzte mehr auf Gegen-Zeit-Felder.
"Laßt die Dinger nicht näher als drei Sekunden Relativ-Zeit
an uns heran!" schrie ihnen Paulsson von unten zu.
"Ich bin doch kein Anfänger mehr", murmelte Daren und startete
das Abwehr-Programm seines Feld-Werfers.
Es würde jetzt darum gehen, das Zeitfeld der Minen aufzureißen,
bevor diese ihrerseits die kontinuum-verzerrenden Kräfte des
Schiffes stören konnten. Es würde zu einer Art 'Armdrücken'
von Kraft und Gegenkraft kommen. Der Verlierer würde seine Inter-Zeit-Integrität
verlieren und durch den raschen Übergang auf das Unterniveau
über viele Minuten hinweg zerrissen werden. Daren nannte soetwas
eine 'Zeit-Explosion'. Paradox fand er es immer wieder, daß
der zerstörte Gegner in seinen Raumkoordinaten noch unversehrt
bleiben konnte, nur seine Zeit-Struktur war desolat.
"Auf die gute alte Raum-Zeit-Stabilität!" zischte er grimmig
und sah auf dem Peilschirm seiner Überwachungszone mehrere Minen
heran driften. Dieser Schirm rechnete Zeitdistanzen in räumliche
Darstellung um, damit die Konstellationen vom menschlichen Gehirn
verarbeitet werden konnten. Daren versuchte jetzt nicht daran zu denken.
"Weg mit den Scheißern, zack!"
Er steuerte die Parameter des Abwehrprogrammes auf höchsten Freiheitsgrad.
Vier Sekunden jenseits des Zeiters desintegrierte die erste Mine ,
dann erwischte es schon die Nächste.
Das fing gut an.
Seine Kameraden schienen ebenfalls Erfolg zu haben.
Er konnte Jubel aus mehreren Kampfständen hören. Dazwischen
tönte der Commander: "Sehr gut, Männer! Aber werdet nicht
übermütig! Voll drauf!"
Zack, Zack, Zack und nochmal...
Ein mächtiger Schlag dröhnte durch das Schiff. Verdammt!
Das mußte ein Treffer der 'Armada' sein. Gegen-Zeit-Felder!
Sie legten sich so schnell 'schräg' zur bisherigen Inter-Zeit-Koordinate,
daß die Kompensatoren nicht hinterher kamen. Die Mannschaft
wurde in ihre Sessel gedrückt.
Schmerz zuckte durch Darens Brustkorb. Er mußte husten.
Wie oft hatte es ihn in diesem Krieg schon fast erwischt? Er rang
nach Luft. Sein Feld-Werfer putzte wieder mehrere Minen beiseite.
Die Todes-Teppiche der 'Armada' wurden immer größer. Er
hatte oft schon den Verdacht gehabt, daß sie Waffen-Nachschub
aus parallelen Zeitströmen bezogen. Der Nachrichtendienst des
'Zeitsturms' hatte wiederholt merkwürdige Nachrichten aus ungewöhnlichen
Spektrum-Zonen aufgefangen. Leider waren diese verschlüsselt
und verstümmelt gewesen.
"Hauptsache unser Inter-Zeit-Krieg mischt sich nicht mit dem zwischen
anderen Zeitströmen."
So ein Multi-Crossover wäre nicht einmal mehr von ihren besten
strategisch-taktischen Rechengehirnen zu meistern. Das wäre Schach
auf unendlich vielen Ebenen, Jonglieren mit Milliarden von Bällen.
"Scheißer!" schrie Daren. Das Schiff schlingerte wieder, irgendwo
tönte ein Alarm. Er warf einen Blick über seine Schulter
zurück und hinunter durch das Bodenluk in den Mannschafts-Hangar.
Dort flackerte rotes Not-Licht.
"Die haben uns doch wohl nicht erwischt?"
Er mußte Panik niederkämpfen. Das Blut schoß ihm
in die Ohren, für einen Moment wurde ihm schwindelig. Seine Atemzüge
klangen viel zu laut.
Schweiß lief wieder durch seinen Stoppelbart.
"Wir sind gleich durch!"
Das war der Commander.
Daren setzte sich in seinem Kampf-Sitz auf und kniff die Augen zusammen.
Die Peilung zeigte jetzt nur noch sechs Minen in seinem Abschnitt
an.
"Euch geb' ich die Breitseite..."
Die Leuchtpunkte auf dem Schirm blendeten sich einer nach dem anderen
aus, bis auch der Letzte verschwunden war.
Geschafft.
Der Zeiter glitt auf seinem Felderkissen in Eintauch-Position. Datenreihen
liefen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die Speicher-Module
der Bordrechner, wurden verglichen, sortiert, verdichtet, umgeformt
und nach programmatisch vorgeschriebenen Rhythmen neu verteilt. Das
Ping-Pong-Spiel der beteiligten Dateien und Programme zog jetzt die
Energien des Schiffes zu sich. Nicht benötigte Komponenten wurden
abgeschaltet oder zumindest heruntergefahren. Es würde dunkler
und kälter.
"Eintritt in vier Sekunden Bordzeit!"
Was hatte der Commander gesagt? Sie würden Mitte des 20. Jahrhunderts
in den Strom springen. Nuklear-Zeitalter. Aber über die Regional-Koordinaten
hatte er nichts gesagt.
"Hauptsache der Bordcomputer weiß Bescheid..."
Ein Ziehen lief durch seinen Magen. Die Sequenz begann.
Vier, Drei, Zwei...
Das Schiff wurde von irgendetwas gepackt.
"Treffer der 'Armada'!!" schrie es in Darens Kopf, da war der Countdown
zuende, und sie verließen schlagartig die Inter-Zeit.
Die Fensterschotten surrten und glitten beiseite. Wirbelnde Wolken
kamen jenseits der entspiegelten Scheiben zum Vorschein. Sie brausten
über den Himmel, also lag ihr Einsatzgebiet nicht in Neuseeland,
wo ihre Basis über 1000 Jahre in der Zukunft lag.
Er sackte in seinen Sessel zurück und starrte eine Weile auf
die tobenden Gewalten da draußen. Bizarre Schwaden türmten
sich auf und zerissen, Luftwirbel heulten.
"Mannschaft zum Briefing!" befahl der Cammander, und so mußte
sich der müde Soldat von dem Naturschauspiel abwenden und hinabsteigen.
Er eilte durch den Hangar zu seiner Position.
"Männer, das war ausgezeichnet! Ein sauberer Durchbruch!
Wir befinden uns nun im Jahr 1947. Genauer gesagt ist es die Nacht
zum 2. Juli 1947. Unser Auftrag besteht darin, einen abgestürzten
Zeiter unseres Gen-Kommandos zu bergen, bevor die Menschen dieser
Zeit das Schiff entdecken. Die Entdeckung unserer Technologie in den
politisch instabilen Zeiten des 20. Jahrhunderts könnte verheerende
Folgen haben und die Zukunft, so wie wir sie kennen, auslöschen.
Aber das dürfte hoffentlich jedem klar sein: Beim Bergungseinsatz
darf keinesfalls Kontakt zur Bevölkerung aufgenommen werden oder
Ausrüstung zurückbleiben."
"Sir, wieviele Gen-Soldaten sind in dem abgestürzten Schiff?"
"Drei. Spezial-1B-Mutanten. Erweiterte Hirnkapazität, konfigurierte
Augen."
Da erscholl eine Sirene.
"Verdammt, was...?"
Alle sahen sich erstaunt an. Der Commander ging zur Zentralkonsole
und warf ein paar Blicke auf die Displays. Dann verdunkelte sich sein
Gesicht.
"Die Mission wurde automatisch vom Rechner abgebrochen. Der letzte
Treffer der 'Armada' hat uns böser erwischt als vermutet. Bevor
wir hier in dieser Zeit stranden und nicht mehr starten können
heißt es Abpfiff für uns. Scheiße!"
Daren fühlte die Enttäuschung durch alle Knochen
fahren. Das Schiff schwang zurück in die Inter-Zeit, vorbei an
den Gewitterwolken über dem kargen Osten von New Mexico, zwischen
Corona und Roswell.
ENDE