Paradise # 50

Der Zettel

© Christian "Prospero" Spließ

Klick, klack, klick, klack – wie systematisch ich gehe, wenn ich ein Ziel erreicht habe. Ist mir noch nie aufgefallen. Seltsam, da lebt man die ganzen Tage vor sich hin und diese Kleinigkeiten ... Ich könnte danach die Uhr stellen, jeder könnte danach die Uhr stellen. Klick, klack ... meine Schritte auf der Straße. Das Geräusch prallt von den Wänden ab, geht im Lärm der Passanten unter. Und ich, an diesem Sommertag, der heiß auf meiner Haut brennt, bin nicht mehr die, die ich vorher war.

Seltsam, wie sich alles verändert hat. Die Menschen sehen glücklicher aus – dieses Kind da vorne mit der Eistüte in der Hand, gleich wird die Mutter sagen, es solle die eine Seite ablecken, bevor das Eis auf die Straße tropft. Und dann wird sie ein Taschentuch hervorholen, bestimmt wird sie das tun. Wie putzig das verschmierte Gesicht des Kleinen aussieht. Wie alt ist er wohl? Zwei? Drei? Ich gehe jetzt an ihm vorbei, lächle ihm zu.

Da – im Fenster. Bin ich das? Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich den Schatten meines Gesichtes vorbei huschen. Wirke ich geschäftig? Wie jemand, der noch etwas zu erledigen hat? Ja? Nein? Und warum? Jetzt bin ich schon wieder weg und andere Bilder ersetzen mich.

Klick, klack, klick, klack ... Es müssen diese Absätze sein. Warum habe ich das vorher nie gehört? Mein Gott, ich höre mich wirklich wie eine menschliche Uhr an. Ruhiger. Ruhiger. Ja, genau so. Es ist ja nicht so, als hätte ich etwas zu verbergen. Oder würde vor etwas davon rennen, nein. Im Gegenteil.

Diese Handtasche – so klein und zierlich. Leder. Ich muss es anfassen, muss es berühren. Wie weich es ist. Ich glaube, ich probiere sie einmal – ach du meine Güte, jetzt ist meine Tasche heruntergefallen. Ganz einfach so. Da muss etwas locker gewesen sein. Du liebe Güte, ist mir das peinlich.

Wie die Menschen mich anstarren. Also, so unattraktiv sehe ich doch wohl nicht aus, oder? Na schön, im Lauf der Zeit ist mein Po etwas in die Breite gegangen, na gut. Passiert doch jedem. Und die Brüste – klar, die waren auch mal straffer. Na und? Wir werden doch alle älter.

Lippenstift, Spiegel – ach, die alte Puderdose. Warum habe ich die denn eingesteckt? Die ist doch so abgegriffen und so unscheinbar. Komisch, wie ich sie jetzt so in den Händen halte, kommt da ein Gefühl von Nostalgie in mir hoch? Seltsam – ich weiß nicht genau, was ich fühle, aber ich kann sie jetzt nicht so einfach wieder zurücklegen. Aber was mache ich mit ihr? Zumal die anderen Sachen wieder ordentlich verstaut sind. Gut, dass man nicht alles sehen konnte, das wäre wirklich peinlich geworden. Und alles nur wegen dieser Handtasche, die rote da vorne. Fast schon lächerlich.

Gut, die Puderdose wandert dann einfach in die linke Jackentasche, da ruht sie gut. Hmm – habe ich da noch Kleingeld? Es klimpert ganz schön. Klick, klick, kling, klang. Ein hübsches Glockenspiel. Aber vielleicht tue ich die Dose doch wieder zurück. Das ist mir doch schon zu auffällig.

Ah – das ist besser. Jetzt muss ich noch einige Sachen besorgen – was war es doch gleich? Habe ich einen Zettel gehabt? Mein Gedächtnis, mein Gedächtnis. Nein, diese Probleme hast du noch nicht, da vorne im leichten Sommerkleid. Sind Blumen wieder in? Ich muss noch mal in den Modezeitschriften blättern, ich glaube, ich kann meine alten Kleider wieder aus dem Schrank holen. Na, ob sie mir noch passen, das ist eine andere Frage.

Seltsam. Der Geruch. Wo kommt der her? Von da – nein, von da. Ach so – ein Probierstand der Parfümerie. Sollte ich vielleicht? Aber brauche ich eigentlich solche Duftbomben? Na ja, einen Blick kann ich riskieren.

Ach, was soll ich da. Wo habe ich nur meinen Einkaufszettel – in der Tasche? Ach herrje, wenn er jetzt ganz zuunterst liegt? Das Kramen ist mir unangenehm.

Und das, obwohl ich sie eben noch gereinigt habe, die Krümel ausgeschüttet und die Bonbonreste entsorgt. Musste mal wieder sein. Dieser Schmutz, der sich da unten ansammelt – unglaublich.

Gott, man wird vergesslich. Gestern habe ich doch stundenlang meine Lesebrille gesucht. Nun gut, allmählich komme auch ich in das Alter, in dem ich kleinere Schriften nur mühsam entziffern kann, aber zum Einkaufen brauche ich die Brille doch nicht. Nein, das geht noch so. Nur der Kassenzettel, den muss ich dann schon noch genauer studieren, nachdem ich alles eingeräumt habe. Mein Gott, das dauert auch nicht länger als sonst.

Aber wo habe ich nur den Zettel? Vielleicht kriege ich es auch noch aus dem Gedächtnis zusammen – Koriander, Koriander müsste dabei sein. Das Rezept hat doch Koriander. Bestimmt. Ja, aber den bekomme ich doch nicht hier im Supermarkt. Vielleicht beim Türken nebenan?

Was diese jungen Leute für T-Shirts tragen. Unglaublich. Ist das ein neuer Trend? Gut, dass ich den nicht mitmachen muss. Und der da, der sieht ja wirklich lächerlich aus. Nein, naturblond ist das nicht. Bestimmt nicht. Das sehe ich doch von hier aus. Da. Genau da. Der Ansatz. Nein, das redest du mir nicht ein, dass das deine natürliche Haarfarbe ist. Und wie der überhaupt aussieht. Dreitagebart. Das daneben – seine Freundin? Eine Bekannte? Händchen halten sie jedenfalls nicht.

Jetzt bin ich schon wieder in den alten Takt gefallen. Ko-ri-an-der, Ko-ri-an-der. Als müsste ich den Namen in die Straße einhämmern. Aber wo bekomme ich den? Wenn ich jetzt noch in die Stadt müsste, extra dafür – das wäre jetzt wirklich zuviel Aufwand. Aber vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass ich Koriander brauche? Hilft wohl alles nichts, ich muss gleich nach dem Zettel suchen.

Ah, eine Brise. Das tut gut. Ich brauche gleich etwas zu trinken. Wein für daheim. Und jetzt? Jetzt gleich? Eine Cola? Oder etwas Vernünftiges? Ich habe schon lange keine Cola mehr getrunken. Da hätte ich jetzt Lust drauf. Ob ich einfach –

Später. Später. Die Läden schließen gleich. Wenn ich die restlichen Zutaten kaufe, dann nehme ich eine Cola mit. So eine kleine. Vielleicht auch eine große. Anstatt des Weins – aber das wäre doch zu dumm. Das würde doch nicht zum Fleisch passen. Nein, auf was ich für Einfälle komme. Das muss am Wetter liegen. Bestimmt, am Wetter. Oder daran, dass ich es endlich hinter mich gebracht habe. Vielleicht beides.

Meine Güte, wie mich die Verkäuferin anstarrt. Da gehe ich doch glatt resolut an ihr vorbei. Was denkt die sich eigentlich mich so anzusehn? Meine Haarfarbe ist halt dieses Tiefrot, da ist nichts gefärbt. Na gut, vielleicht die Schläfen ein wenig. Aber auch nicht viel. So dezent wie möglich halt. Wenn die ersten Strähnen vorne auftreten, dann, ja dann färbe ich nicht mehr. Dann mag es halt raus wachsen.

Aber was wollte ich denn eigentlich kaufen? Ob ich den Metzger frage, ob der das Rezept weiß? Für dieses ganz spezielle Herzgericht? Soll ich es versuchen? Nett schaut er ja schon aus. Vielleicht kaufe ich auch noch was bei ihm dazu. Wurst braucht man ja immer. Und sieh an – das Rindfleisch ist billiger geworden. Die Tiefkühltruhe ist aber bestimmt voll. Als ich den Rest eingefroren habe, passte kein Beutel mehr hinein. Deswegen muss ich auch heute Abend unbedingt das Herz machen. Wenn ich es schon nicht auftauen muss. Also, das wäre ja wirklich zuviel Arbeit. Bei der Hitze ist das Braten ja schon fast eine Tortur. Was sein muss, muss halt sein.

Aber was soll ich ihn belästigen, ich habe den Zettel bestimmt in der Handtasche. Ganz bestimmt. Und er hat ja zu tun. Eine Extrawurst für den Kleinen, natürlich. Wie der guckt. Also wirklich, in diesem Alter sind die ja noch recht süß. Aber später, später, da kommt dann der ganze Ärger. Und nie rufen sie an.

Ach, ich muss wohl wirklich nach dem Zettel kramen. Machen wir es hier, beim Kaffee. Da sieht mich momentan keiner. Wie ich es mir gedacht habe, ganz zuunterst. War ja klar. Beim Schlüssel. Komisch, was ist das denn? Da muss irgendwas drüber gelaufen sein, ich erkenne kaum meine Handschrift. So was ärgerliches aber auch – ich hätte den Zettel doch besser nicht direkt neben das Messer legen sollen, das war wohl nicht ganz sauber.

 

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Letztes Update dieser Seite am 23. Januar 2003