Paradise 48

Die Anstalt

© Christiane "Wintermute" Lieke

Das erste Mal, als ich den weitläufigen Komplex mit seinen freitragenden Kuppeln und aufstrebenden Säulen besuchte, schneite es. Dicke gräuliche Flocken tanzten in den Kegeln der Xenon-Scheinwerfer; der aufgefrischte Wind brachte so viele, dass der grelle Strahl schon nach wenigen Metern von den Wogen einer formlosen grauen Masse verschluckt wurde. Obwohl monatelange sorgsame Aufklärungsarbeit ihre Früchte getragen hatte und mir hinlänglich bekannt war, dass es sich lediglich um einen Nebeneffekt der künstlichen Ozonschicht handelte, musste ich an die Auswirkungen flächendeckender Waldbrände denken. Die Zeit, da Kinder Schneemänner bauten oder sich fröhlich lachend Schneeballschlachten lieferten, gehörten vermutlich genauso lange der Vergangenheit an wie der unbeschwerte Genuss von geräuchertem Lachs.

Der Bordcomputer des Shuttles fand selbstständig seinen Weg durch die trübe Suppe, die den frühen Nachmittag in tiefe Finsternis tauchte. Die vorgeschützte Aufgeräumtheit des Tannenhof-Komplexes widerte mich genauso an wie all die Laserhologramme, die knapp über den Dächern der Stadt schwebten und für die neuesten Services der Netzprovider warben.

Während ich im lichtdurchfluteten Foyer das geschickte Lichtarrangement beobachtete, das eigens für den Zweck geschaffen worden war, die graue Trübe in strahlendes Weiß zu tauchen, beschäftigten sich einige Besucher damit, sich an Panoramabildschirmen in die Weite des Netzes einzuklinken. Ungeduldig ging ich auf und ab, bis eine Krankenschwester im glänzendweißen Kittel und mit strahlendem Kukidentlächeln grüßend in meine Richtung nickte. Auf Hygiene und erstklassiges Erscheinungsbild war man in den Tannenhof-Anstalten bedacht. Sie lud mich ein, ein Gravoboard zu besteigen. Während ich mich am Haltegriff festhielt, glitten Hunderte Meter grellweiße Gänge mit nummerierten Türfluchten an mir vorüber. Die Sauberkeit übertraf leicht die jeder Intensivstation eines mittelgroßen Universitätskrankenhauses. Insgeheim fragte ich mich, wie jemand, der mit einer leichten psychischen Störung hier eingeliefert wurde, noch imstande war, unter all den gleichen Türen die richtige wiederzufinden.

Ich hatte damals nur eine sehr verschwommene Vorstellung von der Größe und Organisation von Einrichtungen dieser Art, hatte ich doch bisher das Glück gehabt, nicht mit Betroffenen in Kontakt gekommen zu sein. Doch das hatte sich schlagartig geändert, als Jan eingeliefert wurde. Obwohl er nur ein Kollege war, bestand ich darauf, ihn zu besuchen. Die Ausdehnung der Korridore war schier erschlagend. Um sich überhaupt zurechtzufinden oder die Strecke bewältigen zu können, war man auf ein Gravoboard angewiesen. Als besonders nervenzerrend empfand ich das eintönige Weiß.
Die Schwester lieferte mich im Besucherbereich der Station 192-27-071-0 ab. Selbst die Zimmernummern ähnelten IP-Nummern.
Bevor ich Jan sehen konnte, wurde ich von einer kameragesteuerten Serviceeinrichtung lautstark dazu genötigt, einen dieser fürchterlich unbequemen, weißglänzende Kittel überzustreifen und mein Haar mit einer Kappe zu verhüllen. Hier galt es wieder zu warten. Auf einem Holoprojektor, der so in eine Säule integriert war, dass ein Teil ihrer Konstruktion in der Luft zu schweben schien, wurden Zahlen eingeblendet. Mir wurde erst dann klar, was sie zu bedeuten hatten, als ein gedrungener Mensch mit randloser Brille auf die Karte tippte, die ich unentschlossen zwischen den Fingern drehte. Es schien ihn bereits zu überfordern, dies mit einem knappen Kopfnicken oder einer anderen Form des Grußes zu verbinden. Zu allem Überfluss durchzuckte mich die Erinnerung an ein uraltes Lied, das ich in meiner Jugend das letzte Mal gehört hatte.
"... in eine Nervenklinik, wie sie noch keiner gesehen hat. Sie hat ein Fassungsvermögen sämtlicher Kaufhäuser der Stadt ... Hier wirst du nur noch verrückter gemacht."
Ich ertappte mich beim Gedanken an die brachialen Methoden der Psychiatrie der Vorzeit. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn.
"Folgen Sie mir bitte", unterbrach eine sanfte Stimme meine Gedanken, "jeder, der TANNENHOF das erste Mal besucht, benötigt Zeit, sich auf den Klinikbetrieb einzustellen."
Das viele Weiß machte mich schwindlig. Wären da nicht die Farbtupfer der Projektionsbildschirme gewesen, hätte ich glauben können, an einen Ort außerhalb der Erde gebracht worden zu sein. Der Mann zog die Karte am Sensor einer Schließanlage vorbei, die die gleiche Nummer trug,. Der Anblick vergitterter Gefängniszellen hätte mich nicht mehr treffen können, als das, was sich hinter übermannshohen Scheiben darbot.

Eine einzelne Person in einem weißen Kittel stand vor dem Viereck eines vollkommen konturlosen Raumes. Ich konnte noch nicht einmal ein Bett oder einen Stuhl ausmachen. Noch ehe es dem Mann, einem der wenigen menschlichen Pfleger, die hier beschäftigt waren, gelungen war, an mir vorbei in den Wartebereich zu schlüpfen, hatte ich ihn am Ärmel gepackt.
"Entschuldigen Sie", brachte ich mit mühsam beherrschter Stimme hervor, "Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes glaubhaft machen, dass ein Mensch, der hier eingesperrt wird, wieder gesund wird!"
Mit ungeduldiger Geste versuchte er meine Hand abzustreifen. "Sie können sich mit ihm unterhalten, wenn Sie möchten. Das System funktioniert wie eine Wechselsprechanlage." Er deutete auf einen markierten Knopf. "Aber erwarten Sie nicht, dass er Sie erkennt."
"Ich werde dafür sorgen, dass er keine Minute länger in dieser ... dieser Verwahranstalt zubringen muss!"
"Wie Sie meinen", entgegnete der Mann gleichmütig und wandte sich zum Gehen.
Zögernd trat ich auf die Scheibe zu und drückte den Knopf.

"Guten Morgen, Jan, Wie ... wie geht es dir?"
Aber der Mann hinter der Scheibe, der die Züge meines Kollegen trug, zuckte mit keiner Wimper. Vielmehr schien sich sein Blick durch mich hindurch in weite Ferne zu bohren.
"Was tun Sie dir an, Jan? Das ist doch Gehirnwäsche! Versuchen Sie dir den Verstand zu nehmen, Jan?"
Die Lippen der bleichen Gestalt fuhren fort zu flüstern, während er unverwandt in meine Richtung und doch an mir vorbei ins Nirgendwo starrte. Für einen Augenblick glaubte ich von seinen Lippen ablesen zu können, was er sagte:
"Ich bin drin ... ich bin drin ..."

Was hatte das um alles in dieser Welt zu bedeuten?
Entsetzt wie ich war, setzte ich mich umgehend mit der Stationsleiterin in Verbindung. Ihre Augen schienen in warmherzigem Verständnis aufzuglühen, als ich stockend mein Anliegen vorbrachte. In der Tat war sie eine Frau, die es verstand die Wucht meiner Vorwürfe zu brechen, noch ehe ich Gelegenheit hatte sie zu formulieren.
"Die Dinge, die Sie da anführen, sind uns alle bekannt: die üblichen Missverständnisse, die durch mangelnde Kenntnis entstehen. Ich kann Ihnen daraus keinen Vorwurf machen, denn über unsere Arbeit ist paradoxerweise trotz des Netzes so gut wie nichts bekannt. Mehr denn je gehört die klinische Psychiatrie zu den Tabuthemen der Netzgesellschaft. - Wundern Sie sich nicht über die Größe der Anstalt?"
"Nun, ich hielt sie für eine landesübergreifende Einrichtung, das Ergebnis einer Zentralisierungsinitiative."
Mit einiger Entschiedenheit schüttelte sie den Kopf.
"Wir haben mit der Farbe Weiß die besten therapeutischen Ergebnisse erzielt, da sie praktisch keine visuellen Reize enthält. Licht aller Frequenzen zu gleichen Teilen wird in der Farbe Weiß vereint. Unsere Aufgabe ist es, diese Gesellschaft zu entrümpeln, von allem überflüssigen Informationsplunder, insbesondere dem unkontrollierbaren Informationsmüll zu säubern, der durch die DSL-Leitungen des Internets schwappt. Nach acht, spätestens 12 Wochen sind die Patienten, die wir entlassen, in der Lage, wieder etwas in der Außenwelt wahrzunehmen. Nach einem halben Jahr sind sie soweit hergestellt", fuhr sie eindringlich fort, "dass wir sie nach Sarajevo, Kabul oder eine der anderen sogenannten Wiederaufbaugebiete schicken können, wo sie Arbeiten im Straßenbau, in der Landwirtschaft übernehmen - in Bereichen, unter denen sich die meisten nichts mehr vorzustellen vermögen ... O nein!"
Wie um einen ungesagten Vorwurf abzuwehren, hob sie die Hände.
"Was in Ihren Augen wie ein gigantisches Leiharbeiterabkommen aussieht ist in Wirklichkeit die umfassendeste Reha-Maßnahme, die jemals entwickelt wurde! Es ist großartig, Menschen zu erleben, die mit ihren Händen etwas hervorbringen können und ihren Verstand dazu einsetzen, Lösungen für Probleme des täglichen Lebens zu entwerfen. Eingegliedert in Gastfamilien, die oft noch nicht einmal über einen Fernseher verfügen, lernen sie wieder die Grundlagen des menschlichen Daseins. Glauben Sie, auf diese faszinierende Entdeckungsreise zu gehen ist die größte Herausforderung, die ein Mensch annehmen kann."

Ich starrte die Ärztin mit einigem Unverständnis an. Was sollte ich von diesen gewagten Behauptungen halten?
"Sie untergraben die Gesellschaft", erwiderte ich hilflos.
"Seit etwa fünf Jahren, seitdem das Projekt angelaufen ist, haben es 30 Prozent der Bevölkerung durchlaufen. In etwa zehn Jahren, wenn weitere Kapazitäten zur Verfügung stehen, hat die Regierung, ja, Sie hören richtig, ihr Ziel erreicht."
Fassungslos hob ich die Hände und ließ sie wieder sinken.
"Seit seiner Gründung läuft dieses Programm völlig unbemerkt von der Bevölkerung ab: nur ein äußeres Anzeichen dafür, wie wenig die ‚Informationsgesellschaft’ mit menschlichen Bedürfnissen identisch ist. Womit wir es zu tun haben", sie beugte sich vor, um mich fest ins Auge zu nehmen, "ist ein ungeheures Massensuchtphänomen, das auf alle Gesellschaftsschichten übergegriffen hat. Um die Integrität der Gesellschaft zu bewahren, hat die Regierung den einzig möglichen Schritt vollzogen: sie sukzessiv zu entseuchen."
"Aber wieso ... ist das alles an mir vorbeigegangen?"
Sie lächelte wieder, obwohl ihre Augen kühl blickten.
"Ein wesentliches Merkmal der Sucht ist, dass der Betroffene im seltensten Fall seiner Krankheit – denn darum handelt es sich tatsächlich – bewusst ist."

 

E N D E

 

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Letztes Update dieser Seite am 26.02.2006