Paradise # 47 | Im Schrein der Sonnengöttin © Christiane Wintermute Lieke |
Wie ein Peitschenknall fuhr der Donner vom verhangenen
Himmel. Kaum einen Herzschlag später zerriss augenmarternde Helligkeit
das düstere Gespinst und legte die kohlschwarzen Umrisse skelettierter
Äste frei, an denen Windböen lustvoll zerrten. Fast waagrecht
trieb der Regen dicht wie Schnüre aus grober Hanfkordel über
das aufgewühlte Land. Im nächsten Augenblick gefror der
Himmel zu schwarzem Obsidian.
Vergeblich versuchte Mitsugato sein Reittier gegen Wasser geschwängerter
Sturmböen voranzuzwingen. Weiß rollten die Augen in seinem
Schädel. Mit der Kraft der Verzweiflung riss das Pferd den Kopf
gegen den strammen Zug der Zügel hoch. Obwohl sich Mitsugato
mit aller Macht, die noch in seinem ausgezehrten Körper verblieben
war, am Sattelknauf festzuklammern versuchte, war kein Halten mehr.
Ein Fanal wie aus tausend Kanonenrohren, ein stroboskopisches Aufblitzen
gleißenden Lichts, als hätte Raiden, der Donnergott,
beschlossen die Erde zu spalten! Kaum einen Atemzug später lag
er mit dem Gesicht voran im kalten Schlamm.
Aus weiter Ferne glaubte Mitsugato das vor Panik grauenhaft verzerrte
Wiehern des schwarzen Hengstes zu hören. Doch der Wind blies
ihm die Silben seines vertrauten Namens von den Lippen. Das höhnische
Gelächter des Windgottes mischte sich in das wütende Toben
des aufgebrachten Donnergottes. Auf Händen und Knien robbte Mitsugato
voran. Schlamm zerrte an seinen zerschlissenen Sandalen, aufgeweichte
Erde presste sich ohne Widerstand durch seine zu Krallen gespreizten
Finger. Ein tiefes Rumpeln, ein Aufblitzen wie von einer Schwarzpulverexplosion!
Glaubte er nicht deutlich die Umrisse eines Schreins gegen das wüste
Gezerre der Elemente auszumachen? Mitsugato verdoppelte seine Anstrengungen.
Er würde sein Ziel erreichen, so sehr ihn auch Lord Raiden
daran zu hindern versuchte. Längst waren seine aufgeweichten
Strohsandalen im Morast hängen geblieben.
Mit dem gesamten Gewicht seines Körpers stemmte sich der Wanderer
gegen rotlackierte Türbalken. Verfilzte Haarlocken peitschten
ihm ins Gesicht; von Regen und Hagel durchnässt war sein Haar
so steif und hart wie Rosshaar und hinterließ blutunterlaufene
Striemen auf seiner durchnässten Haut. Wind bauschte seinen verdreckten
Haori. Seine sehnigen Hände waren so klamm, dass er kaum noch
spürte, wie die Tür gegen seinen Druck nachgab. Mitsugato
jedoch konnte nicht eher ruhen, bis es ihm gelungen war die Tür
wieder zuzuziehen und so gut es ging gegen die Nässe abzudichten.
Irgendwo in einem Winkel des kleinen, von erkalteten
Weihrauchdünsten erfüllten Raums glimmte eine Öllampe,
die reisende Pilger zu Ehren der Schreingottheit angezündet hatten.
Dieser Schrein war Ameratesu, der Sonnengöttin, geweiht;
der einzige Ort, der ihm in dieser fürchterlichen Nacht Zuflucht
gewähren konnte. Während Regenböen im vergeblichen
Zorn an morschen Fensterläden rüttelten, entrollten zittrige
Hände das durchnässte Bündel. Mitsugato mußte
sich beeilen, sollten seine Maßnahmen zum Schutz vor dem Zorn
des Dämons Erfolg zeitigen.
Atemlos machte er sich daran, die Fenster, die einst mit Ölpapier
abgeklebt worden waren, mit Stofffetzen abzudichten. Unter keinen
Umständen durfte die Flamme der Öllampe erlöschen,
die mit geweihtem Öl gespeist wurde. Trotz der Kälte, die
in dieser Nacht über das Land hereingebrochen war, entkleidete
er sich ganz. Mit Kleidungsstücken, die Lumpen glichen, stopfte
er sorgfältig jede Ritze. In fliegender Hast entzündete
er am heiligen Docht Weihrauchharz. Während seine spröden
Lippen wie die Blätter in einer nachmittäglichen Brise Gebete
wisperten, reinigte er seinen Körper im Rauch.
Mitsugato wusste genau, dass ein Dämon, der listig war, selbst
Zuflucht in seiner Körperbehaarung zu nehmen vermochte, wenn
er die Reinigung nicht mit aller Sorgfalt vornahm.
Nur noch diese eine Nacht!
Wenn es Mitsugato gelang die letzte Nacht bis zum Morgengrauen
durchzustehen, hatte auch der Dämon, der ihn schon seit drei
Monaten verfolgte, die letzte Chance vertan sich seiner zu bemächtigen.
Der geheiligte Boden dieses Ortes bot ihm einen gewissen Schutz; zumindest
ermöglichte er ihm einige zusätzliche Schutzmaßnahmen
durchzuführen. Ohne Unterlass murmelten seine Lippen Gebete,
während er das Rasiermesser am Ledergurt schärfte und die
Klinge über dem Weihrauchbrenner säuberte. Trotz aller Eile
blieben seine Hände erstaunlich ruhig. Jede Nacht hatte er sich
auf diese Weise präpariert. Mitsugato konnte sich gar nicht mehr
daran erinnern, wann er zum letzten Mal einigermaßen erholsamen
Schlaf gefunden hatte. Doch eines musste er unter allen Umständen
vermeiden, nämlich sich bei Dunkelheit vom Schlaf übermannen
zu lassen. Denn so würde er dem Dämon erlauben, ungehindert
seinen schutzlosen Geist in Besitz zu nehmen.
Um seine Maßnahmen zu vervollständigen entnahm Mitsugato
etwas Asche aus dem Bronzekessel, in dem Ameratesu täglich
Feueropfer dargebracht wurden. Er zeichnete damit auf den Boden um
sich herum einen Kreis, den er in allen zehn Himmelsrichtungen mit
shintoistischen Schutzsymbolen verstärkte.
"Worauf wartest du, Dämon!"
rief Mitsugato voll Spott. "Was ist daran
so schwer, den Geist eines einzelnen schwachen Menschen in Besitz
zu nehmen!"
In Mitsugatos erzwungenes Lachen hinein explodierte ein scharfer Knall,
als hätte sich endlich einer der Läden aus den Angeln losgerissen,
um am Stamm eines der Bäume zu zerschellen. Im entfesselten Wind
ächzten die Äste. Das atemlose Getöse des Donners wich
einer wütenden Explosion aus Licht und Funken. Irgendwo in unmittelbarer
Nähe des Tempels war der Blitz in eine alte Kiefer eingeschlagen
und hatte ihren Stamm der Länge nach geteilt. Das Harz in ihrem
Inneren hatte das Holz förmlich in Splitter zerfetzt.
Aber die Dichtungen, die Mitsugato angefertigt hatte, hielten. Zitternd
vor Kälte kniete er mit bloßen Knien auf dem aus Felsgestein
gefügten Boden und zitierte die Schutzformeln umso schneller.
Ausgesperrt vom heiligen Ort tobte und raste der Dämon, kreischte
mit den entfesselten Naturmächten um die Wette. Aber so lange
es Raidens Donnerschlägen nicht gelang den Schrein zu
erschüttern, so lange hatte auch der Dämon keine Macht hineinzuschlüpfen.
Außerdem hatte Mitsugato auch für diesen Fall vorgesorgt.
Plötzlich mit dem Prasseln dumpfer Schläge flog eines der
Fenster ins Innere des Gebäudes. Gerade noch rechtzeitig gelang
es Mitsugato die Öllampe vor dem Luftzug in Sicherheit zu bringen,
indem er sich mit dem Körper über sie warf. Er spürte
kaum, wie ihm die Flamme die ungeschützte Haut verbrannte.
Nach und nach begann das Gewitter schwächer zu werden, immer
länger zog sich das Schweigen zwischen dem Aufbrüllen des
Donners und aufpeitschender Helligkeit. "Der
Dämon wird müde", dachte Mitsugato mit leisem
Frohlocken. "Dämmert nicht schon allmählich
der Morgen?"
Bald erstarb der Sturm, und mit dem Sturm verlor sich
das letzte Donnergrollen im leisen Singsang eines sanften, aber ergiebigen
Landregens. Von Müdigkeit und Kälte erschöpft kauerte
sich Mitsugato in seinem Aschekreis zusammen. Es fielen ihm die Augenlider,
schwer wie Blei, zu. Eingelullt vom feinen Rauschen des Regens sank
er in tiefen traumlosen Schlaf. Ganz sanft plätscherte Wasser,
das seinen Weg durch die Ritzen zerbröselter Dachziegel genommen
hatte, an der Wand entlang; fast lautlos rieselten Tropfen vom rauchgeschwärzten
Gebälk in die Tiefe. Dort sammelten sie sich in dünnen Rinnsalen,
folgten Vertiefungen und Ritzen. Wie der sanfte Kuss der Sonnengöttin
leckten sie die Aschezeichen fort. Zischend erlosch die Flamme der
Öllampe in einer kleinen Pfütze. Die letzte Glut versiegte
in den Weihrauchbrennern.
Von einem Schlag auf den anderen war das Innere des Schreins erfüllt
mit schwarzem undurchdringlichen Rauch. Hätte jemand Gelegenheit
gehabt ihn genauer zu betrachten, hätte er erkennen können,
wie er sich an der einen oder anderen Stelle zu kräuseln und
zusammenzuziehen begann. Nicht gänzlich zufällig begann
die Rauchwolke einer riesigen buckligen Gestalt zu ähneln, die
sich über den Schläfer beugte. Ein Rauchsteif, dünner
als der kleine Finger an der linken Hand, bewegte sich tastend über
seine schlaffen Gesichtszüge. In der schwarzen, konturlosen Grimasse
über ihm zuckte es voll unverhohlenem Triumph.
"Mitsugato, warst du tatsächlich davon
überzeugt mich die ganze Zeit ungestraft zum Narren halten zu
können? Du dummer Mensch! Niemand beschwört einen Dämon
herauf ohne dafür zu sorgen, dass er seinen Lohn dafür erhält."
Während sich der Unhold an Mitsugatos nutzlosen Sicherheitsmaßnahmen
erfreute, fand ein Rauchsaum den Eingang durch die Nasenlöcher
des Schlafenden. Ungehindert fing er zu fließen an. Während
die äußere Ausdehnung der Rauchwolke schrumpfte und die
Haut des Besinnungslosen allmählich die Farbe von Schlacke annahm,
erfüllte ein unheimliches Kichern die eiskalte Luft.
"Hihihi! Ich bin drin!"