Geschichten der Nacht # 65

"ISHINDARA"

 

Ein Fantasy-Roman

von

Nils Radmacher-Nottelmann
("Nirano")

Titelbild:
Norbert Reichinger

Oktober 2010

Zum Inhalt :

Tagtäglich schuftet Asarion Delgondor für die Magier von Ishindara, getarnt hinter der Fassade der angesehenen First Emerald Bank of London.
Heimlich zieht die Bank Energie aus seinen Kunden, die auf der Heimatwelt im Kampf gegen den drohenden Bürgerkrieg benötigt werden.
Gleichzeitig muss der Paketbote John Dover Extratouren fahren, weil ihm die First Emerald mit der Pfändung seines Hauses droht.

Eines Tages wird Asarion beauftragt, eine Schatulle aus dem Besitz des mächtigen Verräters Rubikon zu ersteigern.
Sowohl Asarion als auch John ahnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass die Schatulle ihrer beider Welten aus den Fugen reißen wird.
Zusammen werden sie sich gegen übermächtige Gegner behaupten müssen und ihre Mission scheint beinahe zum Scheitern verurteilt zu sein, da ihnen der wahre Feind immer ein Schritt voraus ist.


Mit dem 65. Band unser Romanreihe "Geschichten der Nacht" stellt der TCE hier das Romandebut von Nils Radmacher-Nottelmann vor.

Nils alias Nirano wurde 1972 geboren und lebt mit seiner Familie im Ruhrgebiet. Geschrieben hat er bereits in seiner Schulzeit. Neben seinen Arbeiten in der Wirtschaftsanalyse, bei der er eine umfangreiche Reihe von wissenschaftlichen und journalistischen Fachtexten veröffentlicht hat, schreibt er in seiner Freizeit Fantasy-Kurzgeschichten. Seit dem Jahr 2009 sind bereits mehrere Geschichten beim TCE erschienen.


Leseprobe:

Vor vierzig Jahren

Sauer stinkender Rauch stach in seinen Augen. Das Lötfett zischte. Er blinzelte angestrengt, verdrängte den Schmerz und konzentrierte sich weiter auf die Zahnräder. Die Armamit­legierung, jahrzehntelang abgelagert, schmolz unter der Hitze der Lötnadel und schmiegte sich in die Fugen des Mechanismus auf seinem Arbeitstisch. Seine Hände strichen zügig über das Gehäuse, damit die Verbindung rasch in einem einzigen nahtlosen Guss erfolgen konnte. Erst dann würde die Uhr die emotionale Energie eines ganzen Lebens wirksam bündeln.
Als die Fuge vollständig verfüllt war, ließ sich Rubikon Demerald in seinem Stuhl zurück­sinken. Die Legierung musste nun zunächst einige Momente auskühlen. Zornig massierte er seine altersfleckige und vor Müdigkeit zitternde Hand. Er hatte sich lange eingeredet, dass die auf leisen Verrätersohlen heranschleichenden Schmerzen nur eine Folge fehlender Bewegung und der langen Abende in seinem Arbeitszimmer wären. Aber mit hilfloser Wut musste Rubikon sich eingestehen, dass nun selbst einfachste Arbeiten seine ganze Kraft aufzehrten. Trotzdem war es allein seine Pflicht, das System zu stoppen. Er war für das Leiden von tausenden Menschen verantwortlich, für den Tod seiner Familie. Er durfte einfach nicht versagen.
Im Hintergrund plapperte das Radio über eine Rede des neuen amerikanischen Präsidenten Nixon, aber Rubikon hörte nicht hin. Sein Blick schweifte über die Bücher in dem ver­chromten Metallregal. Berge von Papier waren hier während der jahrzehntelangen Studien angehäuft worden, vollgekritzelt – bedruckt und belichtet mit dem Wissen über ausgefeilte Techniken zur Bündelung magischer Kräfte und ihrer Speicherung in Objekten des dreidimensionalen Raumes. Und die jeder Einfaltspinsel dann mit nur einem Knopfdruck wieder freisetzen konnte. Diese Wissenschaft bezeichneten die Menschen beider Welten als Thaumaturgie.
Doch er hatte mehr gewollt. Dort links standen die uralten Seidenpapiere über elementare Verbindungen, die er auf den lärmenden Märkten in Shanghai zusammengeklaubt hatte. Gleich rechts daneben glitzerte der Staub auf den gestapelten Taschenbuchausgaben über die Geisterbeschwörungen Lateinamerikas. Er pustete kurz darüber und sah zu, wie sich der Schmutz auf anderen Papieren einen neuen Platz suchte. Eine große Flocke sank besonders schnell herab und blieb auf den Forschungsnotizen über die ewig schlecht gelaunten Dämo­nen des alten Europas liegen.
Alles große Arbeiten des größten Thaumaturgen der modernen Magie.
Bewundert.
Beneidet.
Aber seine wirklich größte Schöpfung, welche hier in diesem Büroturm die kollektive Kraft vieler Lebewesen bündelte und vervielfachte, dieses Werk überstieg alles in der Geschichte der magischen Wissenschaften. Und deshalb musste er es zerstören.
Seine Zeit lief ab. Er hatte die Umwandler am Kopf der Großen Spindel bereits vor Tagen leicht verstellt und schon jetzt begannen sich die Kräfte in den Maschinen anzustauen. Seine letzten Umarbeiten sorgten zwar dafür, dass der Niedergang noch nicht zu bemerken war. Aber sobald die ersten Konverter durchbrannten, würden selbst die Magier auf Ishindara bemerken, dass ihr Außenposten auf Terra nicht mehr die gewohnte Leistung an die Heimatwelt schickte. Bis dahin musste er sein letztes Werk vollendet haben.
Müdigkeit zog an seinen Gelenken. Doch die Angst vor der drohenden Niederlage rüttelte neue Willenskräfte wach. Mit verkrampftem Ächzen raffte er sich abermals auf und beugte sich weiter über die Federwerke und Lager der zahlreichen hauchdünnen Achsen. Nur wenn alles perfekt war, würde das Räderwerk funktionieren. Gerne hätte er einen Testlauf durchgeführt, aber eine Uhr wie diese durfte er nur ein einziges Mal starten. Danach musste sein Schicksal für ihn entscheiden.
Aus dem Halbdunkel hinter dem Arbeitstisch trat ein junger Mann hervor. Der Stoff seines dunkelgrauen Anzugs flüsterte leise, während er sich näherte und hinter Rubikon an den Tisch trat.
„Ihr solltet in Eurem Alter nicht mehr so lange arbeiten“, sagte der Assistent fürsorglich.
Zornig schrie Rubikon auf und wischte mit der rechten Hand über die Gerätschaften, die sich auf der Arbeitsfläche dicht an dicht drängten. Eines der Löteisen sprang aus seiner Halterung, rauschte über Rubikon hinweg und bohrte sich zischend in die Schulter des jungen Mannes hinter ihm. Schreiend sank dieser zusammen. Aschegestank stieg von ver­branntem Fleisch auf und zog durch den Raum.
„Parmetron! Du respektloser Idiot! Du schleichst herum, störst meine Konzentration!“, schrie Rubikon an die Wand vor seiner Arbeitsfläche.
„Du wirst nicht in hundert Jahren begreifen, welche Folgen Deine Unachtsamkeit auslösen kann.“
Rubikon erstarrte. Stille tropfte durch den Raum, getränkt von Parmetrons ersticktem Keuchen. Rubikon senkte den Kopf, atmete tief durch und erhob sich rasch. Er eilte zu seinem am Boden liegenden Assistenten und legte die Hand auf die verletzte Schulter. Rubikon sprach leise mehrere Kraftrituale. Sofort entspannte sich der Mann.
„Es tut mir so leid“, sagte Rubikon leise, während er den Schmerz aus der Schulter saugte und in seinen eigenen Körper fließen ließ. Ihm wurde fast schwarz vor Anstrengung, aber er kapselte die wilde Kraft des Schmerzes ein und ließ sie gezähmt wieder in der Schulter des Mannes versinken. Vorsichtig zog er den Lötkolben aus der Schulter, ließ Gewebe in die klaffenden Lücken nachwachsen und verschloss die Wunde wieder. Notdürftig straffte er das verbrannte Tuch des Anzugs über der Narbe. Ein Anflug von Stolz regte sich in ihm, weil seit Jahrzehnten keiner der Thaumaturgen mehr in der Lage war, magische Kräfte auch ohne den Umweg über materielle Träger freizusetzen. Doch sofort überspülte Reue jede Freude an den eigenen Leistungen. Nach so viel Arbeit hatte er der Welt nichts als Verderben gebracht. Seine heilenden Fähigkeiten hingegen würden mit ihm untergehen und vergessen werden.
Rubikon warf das Löteisen beiseite. Noch während es über den Linoleumboden klapperte, packte Rubikon seinen Assistenten an der gesunden Schulter und schüttelte ihn eindringlich.
„Du bist mein treuester Begleiter, Parmetron, aber ich danke Dir Deine Dienste mit Wut und Jähzorn. Geh endlich. Verlass mich!“
„Nein“, antwortete Parmetron erschöpft.
„Aber warum nur erduldest Du all das?“
„Weil ich der Letzte bin, Meister“, sagte Parmetron leise und blickte nachdenklich ins Leere. „Unter der Maske Eurer Herrschsucht sehe ich noch immer Güte und Mitgefühl. Ihr leidet unter der Last der von Euch selbst geschaffenen Verantwortung. Das gibt mir Hoffnung.“
„Aber Hoffnung worauf, Parmetron! Kommt zur Besinnung! Ich kann meine Fehler nicht einfach wieder heilen und ungeschehen machen. Ich kann nicht einmal Dein Fleisch versor­gen, ohne dass meine Wut Spuren darauf hinterlässt.“
Rubikon nahm den Kopf des Mannes und hob sein Gesicht ins Licht. Eine dünne Narbe zog sich senkrecht von der Nase hinauf bis weit unter die aschblonden Haare; feine weiße Muster erinnerten an Verbrennungen der rechten Gesichtshälfte.
„Ihr seid wahnsinnig. Ich bringe nicht die Kraft auf, Euch hinauszuwerfen. Darum geht, so lange ihr es noch könnt“, bettelte Rubikon.
„Nein. Ich bin der letzte Eurer Schüler. Der Letzte, zu dem Ihr noch menschlichen Kontakt habt, bevor Ihr gänzlich abgleitet. Wenn ich schließlich auch noch gehe, dann mache ich mich mitschuldig an Eurem Untergang und dem Tod von vielleicht tausenden Menschen.“
Rubikon bewunderte den jungen Mann für seine Beobachtungsgabe. Tatsächlich spürte der alte Thaumaturge, wie die Grübeleien von ihm zunehmend Besitz ergriffen und ihm das Urteilsvermögen verdunkelten. Die gelegentlichen Gespräche und allein die Anwesenheit des jungen Mannes lenkten Rubikon ab.
Stabilisierten seine Ängste.
Er würde Parmetron nicht zum Gehen bewegen können, so viel hatte er von diesem eifrigsten und letzten seiner Schüler bereits kennengelernt.
„Eure Weitsicht ist weise“, lenkte Rubikon ruppig ein, um seine Gefühle zu verbergen.
„Aber dumm sind die Helden, welche früh sterben. Ich sollte Euch im nächsten Kamin verbrennen für Eure Anmaßung.“
Er rappelte sich hoch und zog den noch immer etwas benommenen Parmetron unwirsch wieder auf die Beine.
„Und hört auf, mich Meister zu nennen. Dies hier ist die First Emerald Bank of London und keine obskure Magieschule im Ostblock. Ich bin der Vorsitzende, in dieser Welt nennt man mich Mr President, und ihr seid einer der wenigen Auserwählten, denen überhaupt Zutritt zur Vorstandsetage im 40. Stock dieses Büroturms gestattet wird. Vergesst das nicht.“
Noch etwas blass nickte Parmetron knapp. Rubikon klopfte ihm nachdenklich auf die Schulter und verharrte einen Moment. Dann aber ließ er den Mann schnaubend stehen, stampfte zurück zu seinem Arbeitstisch und ergriff mit einer Zange eine Gussform, die er vor einiger Zeit mit flüssigem, heißem Metall gefüllt hatte. Nach einigen Momenten sah er im Augenwinkel, wie Parmetron einen schlichten Metallbecher auf eine entfernte freie Stelle des Tisches bugsierte. Nussbrauner Sirup schwappte darin, und der Dampf stieg in trägen Schwaden über dem Gefäß auf.
„Hier, Meister. Trinkt dies. Das wird Euch gut tun und Eure Konzentration fördern. Und nach einer kurzen Pause werdet Ihr umso schneller arbeiten können.“
Rubikon nahm den Becher in beide Hände und drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern. Er blickte schweigend an seinem Assistenten vorbei in die Ferne. Parmetron wartete respektvoll einige Schritte entfernt und betrachtete fast ängstlich die messingfarbene Uhr auf dem Arbeitstisch.
„Ihr bereitet etwas vor, nicht wahr?“, fragte der junge Mann mit sichtlicher Nervosität.
„Unterbrecht mich nicht, wir haben wenig Zeit. Wie kommt Ihr darauf?“
„Die Energieniveaus des Systems lassen nach. Es ist nur eine kleine Schwankung, kaum zu sehen. Aber nach meinen Berechnungen wird sich die Asymmetrie kumulieren und zu einem exponentiell steigenden Brechungsgrad führen. Dann wird bald nur noch genug Kraft vorhanden sein, um dieses Arbeitszimmer zu versorgen. Oder die Konverter versagen vorher.“
„Wie ich schon sagte, Ihr habt eine gute Beobachtungsgabe. Wahrscheinlich ist genau jetzt ein guter Zeitpunkt, um Euch etwas anzuvertrauen.“
Rubikon stellte den Becher ab. Dumpf klackte das Metall auf der Tischfläche. Dann kramte er in einigen Papieren, die auf der linken Seite der Tischfläche in mehreren Schichten übereinander lagen. Schließlich fischte er einen schmalen metallisch glänzenden Gegenstand daraus hervor.
„Dieser Schlüssel wird eines Tages als Brücke zu mir dienen, Parmetron. Sollte es soweit sein, so wird der Verwendungszweck klar sein.“
„Welches Schloss öffnet dieser Schlüssel?“
„Je weniger Ihr wisst, umso besser für Euch. Bewahrt dieses kleine Stück Metall gut auf, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Und sollten Eure Kräfte derweil nachlassen, so findet rechtzeitig jemanden, der Euch würdig vertreten wird. Für diese Suche werde ich auf Euer Urteilsvermögen vertrauen.“
Parmetron betrachtete den Schlüssel, aufgewühlt vor Ehrfurcht angesichts dieses unerwar­teten Vertrauensbeweises. Seine Ahnungen, dass eine große Veränderung bevor­stand, schie­nen sich als richtig erwiesen zu haben. Plötzlich glitt kalte Furcht seinen Rücken hinab. Monate, sogar jahrelang, hatte er auf eine Erlösung aus seinem Dilemma gehofft, ohne recht zu wissen, worin diese bestehen könnte. Nun aber, da endlich ein Leben in Freiheit erreichbar schien, hatte er plötzlich Angst vor der Veränderung und der Unsicherheit, die in deren Dunstschweif mitgeschleppt werden würde. Trotzdem würde er auch diesmal den Wunsch seines Meisters nicht ablehnen. Zitternd nahm er den Schlüssel entgegen und verstaute ihn in der Innentasche seines Jacketts
.


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Impressum:

GdN 65 ist ein nichtkommerzielles Fanzine des TCE (Terranischer Club EdeN).
GdN 65 erscheint im Oktober 2010.
Umfang: 98 Seiten - Einzelpreis: 4,00 € plus 1,20 € Versand
Text: Nils Radmacher-Nottelmann / Titelbild: Norbert Reichinger

Geschichten der Nacht erscheinen in der Regel vierteljährlich;
ein Abo über 4 Ausgaben ist zum Preis von 16 € erhältlich.

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Letztes Update dieser Seite am 25.10.2010