NetCitizen
© Christiane
"Wintermute" Lieke
Immer, wenn F.J. NetCitizen Steinmann die Verbindung
zum Geflecht, dem weltumspannenden Netz, unterbrach, wollte ihn ein
unerklärliches Gefühl von Einsamkeit und Niedergeschlagenheit
fast erdrücken. Daher versuchte er die Sitzungen so lange wie
möglich auszudehnen; doch sein Antrag auf mehr Onlinezeit wurde
vom Gesundheitsüberwachungssystem rundweg abgelehnt. Schließlich
wurde sie exakt auf die Bedürfnisse seines Organismus abgestimmt.
Das Geflecht, das die Zivitale durchzog und versorgte, hätte
schließlich der Fürsorgepflicht für seine NetCitizens
Sorge zu tragen.
Eigentlich hatte F.J. keinen Grund zur Unzufriedenheit.
Die 3 1/2 qm Grundfläche seiner Wohnzelle waren mit allem Komfort
ausgestattet, der für einen NetCitizen der Klasse 2c erreichbar
war. Doch jedes Mal, wenn sich die Schnittstellenkabel automatisch
aus den subkranialen Buchsen lösten, stürzte sich die gleiche
undurchdringliche Düsternis auf sein Gemüt. Das Netz hatte
ihm Aussicht auf eine Lizenz für eine Lebensabschnittspartnerschaft
gestellt. In exakt 2 Jahren 7 Monaten und 13 Tagen würde ihm
mit dieser Partnerschaft ein 9 qm großes Appartement zustehen,
außerdem die Sonderlizenz ein Kind zu zeugen. Aber selbst diese
erfreulichen Aussichten genügten nicht, etwas Licht durch die
Wolkendecke trüber Gedanken sickern zu lassen.
Müde wankte er die beiden Schritte hinüber
zur Rekreationsnische. Hinter geschlossenen Augen fühlte er,
wie sich die geheizten Gurte sanft an die Anatomie seines Körpers
anpassten. Früher hatte er diese Berührung als Streicheln
empfunden. Während die Kammer um ihn herum in rötlichem
Licht erglomm, wie um die Illusion eines künstlichen Uterus zu
vervollständigen, umhüllte ihn das Strömen der Sauerstoffdusche.
Unsichtbare Greifarme manipulierten an den Kontakten der Bein- und
Armprothesen. Die Gurte jedoch hielten ihn sanft und ohne Druck in
der angenehm temperierten Mulde. Eine leise perlende Melodie senkte
sich in die Rezeptoren seiner akustischen Erweiterung. Während
das Optomodul neu eingestellt und kalibriert wurde, wurde das warme
gestaltlose Schimmern direkt über den Breitbandadapter in seine
Großhirnrinde eingespielt. F.J. seufzte behaglich. Nach und
nach passten sich seine Gehirnströme dem Muster der Entspannung
an, welches der Rekreationscomputer für ihn erzeugte. Schwere
Gedanken fielen von ihm ab wie schmelzender Schnee und ließen
herrlich entspannte, geistlose Leere in ihm zurück.
Wenn die Rekreationsprozedur beendet war, würde
er sich wieder frisch und unternehmungslustig fühlen. Vielleicht
barst er dann vor neuen Anregungen für die wöchentliche
Umgestaltung seiner Wohnzelle! Oder er würde ein Stundenkontingent
seiner ihm zustehenden Freizeit nutzen, dann an einem dieser großartigen
Konvente teilzunehmen, an denen sich manchmal mehrere hunderttausend
NetCitizen zusammenfanden um sich zu einem gewaltigen Netzwerk zusammenzuschließen,
Anregungen und Ekstasen auszutauschen oder modische bionische Erweiterungen
zu erwerben. Fast alle Credits, die er erwirtschaftete, gab er für
Hardware-Erweiterungen oder die Umgestaltung seiner Wohneinheit aus.
Wozu sollte er sie auch sparen? Für die beantragte Partnerschaft?
Sie würde ihn ohnehin auf Stufe 2b befördern.
"Guten Morgen, F.J., hast du gut geschlafen?" Kaum dass
er es bemerkte, hatte sich das Headset mit einer federleichten Bewegung
von seinen Schläfen gehoben und die Verbindung mit seinen optischen
Einheiten wieder hergestellt.
Stirnrunzelnd betrachtete F.J. im gelblichen Streulicht die winzigen
Glitzerstäubchen, die dem transparentgrünen Kunststoff seiner
Armprothesen beinahe den Anschein verliehen aus in Form gehaltenem
Wasser zu bestehen. Er war noch unschlüssig, welches Werkzeugmodul
er diesmal auswählen sollte: eine anatomische Greifhand, eine
Magnetklaue oder einen modischen Schwerkraftmodulator.
"Nein, auf diese Exoprothesen habe ich heute wirklich keine Lust.
Ich denke da eher an etwas Klassisches."
"Selbstverständlich, F.J."
Fast überrascht fühlte NetCitizen Steinmann so etwas wie
Ungeduld in sich aufkommen. Er konnte es kaum erwarten, dass ihm dünne
funkelnde Tentakeln die Module wieder abnahmen, um sie gegen ein Paar
stählerne, durch pneumatische Scharniere bewegte Arme auszutauschen.
"Ich werde an einem Konvent teilnehmen. Dieser Glitzerkram ist
etwas für jüngere Leute."
"Erlaube mir, einen Vorschlag bezüglich deines Unterkörpers
zu machen?"
"Ich kann mir schon vorstellen, was jetzt kommt. Gelenkprothesen
sind etwas für Sportler und Angeber. Wenn ich es mir recht überlege,
sollte ich mir einen dieser flachen kompakten Gravolifter zulegen.
Neulich habe ich mir einen Beitrag über die neusten Testergebnisse
heruntergeladen. Könnte man sich ein elektrisierenderes Gefühl
vorstellen als über dem Boden zu schweben, als hätte ich
überhaupt kein Gewicht?"
Der persönliche Gesundheitsassistent fügte sich in F.J.‘s
Wunsch. "Die Servomotoren verbrauchen viel Energie. Bitte versäume
nicht die Akkus rechtzeitig auszuwechseln."
F.J. stieß ein ungehaltenes Schnauben aus. Es war doch tatsächlich
unmöglich, sich mit dem persönlichen G A über eine
wirklich neuartige Fortbewegungstechnik zu unterhalten.
"Im Übrigen, J.F., da ist noch etwas, das ich dir mitteilen
muss."
"Lass die Höflichkeitsfloskeln", versetzte er ärgerlich,
"komm zur Sache."
"Nun, ich habe eine 0,27%-ige Leistungsverminderung deiner Großhirnerweiterung
festgestellt."
"Na und? Ich fühle mich auf jedem Fall in Bestform."
"Es ist ein Adressierungsproblem, F.J."
"Dann bring es in Ordnung!" Die Ungeduld begann in NetCitizen
Steinmann langsam überhand zu gewinnen.
"Ich habe bereits versucht die synaptischen Verknüpfungen
zu optimieren. Dieser Grenzwert lässt sich zur Zeit nicht verbessern."
"Ich schätze, dass ich augenblicklich mit diesem Leistungsverlust
leben kann. Was gibt es noch, was du mir vorenthalten hast?"
"Deine optische Auflösung. Ich habe dich bereits mehrfach
darauf hingewiesen."
"Also gut", entgegnete F.J. mit einem resignierten Seufzer,
"du versuchst mich schon seit Tagen dazu zu überreden, aus
Rücksichtsnahme auf meinen Kreditrahmen mein optisches Modul
auszutauschen. Natürlich gibt es bessere CCD-Sensoren. Aber ich
habe heute vor, mir eine Vorführung des neuen Gravolifters anzusehen,
und zwar live."
"Ich habe dich lediglich darauf hingewiesen", sagte die
Stimme gedehnt.
"Ständig hast du an allem etwas auszusetzen. Ich wünschte,
ich könnte meine Beförderung beschleunigen. Wenn ich 1d
erreicht habe, werde ich nicht zögern mich um einen Platz im
Skycloud-Netzwerk zu bewerben. Ich könnte mir vorstellen, dass
mich mein Persönlichkeitsprofil für die Anforderungen einer
absolut unkörperlichen Netzexistenz geradezu prädestiniert.
Ich könnte meine Lebensspanne auf zehntausend Jahre ausdehnen,
ohne auf viele fehleranfällige Implantate und ständige langwierige
Reparatur- und Austauschmaßnahmen angewiesen zu sein."
Trotzig schlug er sich mit dem Greifer heftig gegen die Brust, so
dass die Titanmontierung in seinem Inneren dröhnte. "Ich
begreife diese Individuen nicht, die so darauf besessen sind, große
Teile ihres biologischen Körpers zu erhalten, als wäre für
sie ihre organische Herkunft so etwas wie ein Fetisch."
"Du solltest dich endlich beruhigen, F.J.!" Um dieser Ermahnung
Nachdruck zu verleihen, legte sich ein Tentakel an seinen Hals, der
eine Kanüle enthielt.
"Tranquilizer sind das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann."
Mit einer schwachen Handbewegung wehrte er ab. "Gib mir lieber
ein Biofeedbackkurve."
Nachdem es ihm gelungen war, die Kurve, die der persönliche
G A in seine optische Schnittstelle einspielte, in die empfohlenen
Toleranzen zu zwingen, fühlte er sich wieder ausgeglichener.
Seine pneumatische Prothese senkte und hob sich gemächlich im
Takt seines gedämpften Atems. F.J. verlor kein weiteres Wort
an seinen Gesundheitsassistenten, als er die enge Schleuse betrat,
die zum Zentralaufzug führte.
Während er sich die 237 Stockwerke im transparenten Schacht nach
unten tragen ließ, fiel sein Blick auf das düstere dunstverhangene
Labyrinth der Stadt. Irgendwie glichen die miteinander verwobenen
Gebäude mit ihren konisch gekrümmten Durchlässen und
turm-artigen Auswüchsen einem riesigen abstrakten Modell eines
Termitenhügels. Im Grunde genommen bestand die Zivitale aus einem
einzigen ausgedehnten Gebäudekomplex, dessen gräulich glänzende
Außenwände selten von einem rötlichen oder gelblichen
Lichtspalt unterbrochen wurden. Obwohl er in den sternlosen Nächten
vielleicht einem Berg aus erkaltetem Metall glich, ähnelte er
in Wahrheit viel mehr einer amorphen Masse, die sich in ständiger,
heimlicher Bewegung befand.
Vor mehr als dreihundert Jahren gehörte ein Zimmer mit Ausblick
auf die Dächer der Stadt zu den Grundbedürfnissen ihrer
Bewohner. Wer die notwendigen Kapitalmittel aufwenden konnte, ließ
sich ein Penthouse hoch über den Wolken errichten, um das nächtliche
Panorama von Myriaden funkelnder Lichter zu genießen. Zu diesen
Zeiten ergoss sich der Verkehr in drei Dimensionen durch die Stadt.
Wer heute einen flüchtigen Blick durch die dicken trüben
Scheiben einer Liftschachtwand erhaschte, dem gelang es seit langem
nicht mehr, etwas anderes als einen düsteren, mit schwefelgelben
Wolken verhangenen Himmel und gesichtslose Umrisse auszumachen. Das
Wachstum der Zivi-tale hatte sich zwar verlangsamt aber niemals aufgehört,
seitdem das Grundbedürfnis nach Nachkommen in der Netzverfassung
festgeschrieben worden war. Also wuchs die Stadt in Höhe und
Tiefe weiter, deren Ausdehnung in die Breite geographisch begrenzt
war. Gestern hatte die Zivitale den 605.000.001. Neubürger begrüßt.
Das Geflecht ist ein riesiger produktiver Organismus, dachte F.J.,
von eigentümlichen, warmen Strömen tief empfundener Liebe
erfüllt, ein wundervoller offener Kreislauf. Nur das Fliegen
vermisste er. In dem Tunnelsystem, das diesen Organismus wie ein Adergeflecht
durchzog, ließ er sich von Traktorfeldern in eine der Sektionen
tragen, in der heute einer der Konvente stattfand. Es hieß offiziell,
man habe eindeutig nachgewiesen, dass die Felder in keinerlei Wechselwirkung
mit den elektronischen Datenübertragungsvorgängen zwischen
prothetischen Modulen und dem Zentralnervensystem standen. Trotzdem
erschien es ihm erheblich bequemer und sicherer sich auf einem eigenen
Gravolifter fortzubewegen. F.J. erinnerte sich an einen Informationsbericht
des Netzwerkes, in dem es quantenphysikalisch nachzuweisen versuchte,
dass keinerlei Verbindungen zwischen Hardware-Ausfällen und der
Benutzung von Transportfeldern existierte. Anscheinend gab es irgendeinen
Erklärungsbedarf.
Leistungseinbrüche wie der, den der G A bei ihm festgestellt
hatte? Energisch schüttelte er den Kopf. Das Netzwerk beinhaltete
die Summe aller Fürsorgeleistungen für seine NetCitizens;
schließlich existierte es aus dem einzigen Zweck, die Geschicke
der einzelnen Bewohner zu lenken und für ihr Wohlergehen zu sorgen.
Trotz eindeutiger Hinweise schrak F.J. zusammen, als ihn ein rotes
Warnfenster, das sich über einen Teil des Gesichtsfeldes gelegt
hatte, darauf aufmerksam machte, dass er das Tunnelsystem an einer
falschen Biegung verlassen hatte. Aus irgendeinem Grunde war eine
Wartungsschleuse offen geblieben. Ohne darüber nachzudenken,
warum er es tat, war er hineingeschlüpft. Das Warnfenster blinkte
überflüssigerweise. Entnervt beschloss er das Signal einfach
herauszufiltern und zu ignorieren. Eine Gelegenheit zum Ausflug durch
das Wartungssystem ergab sich außerordentlich selten. Der Konvent
hatte noch immer genügend Zeit.
Schließlich ließ ihm der verschlungene kreisrunde Wartungsgang
mit all seinen Röhren und Kabeln Gelegenheit, die Auflösung
seines neuen Strahlungsdetektors auszuprobieren. Die Abschirmung in
den allgemein zugänglichen Gebäudeteilen war so groß,
dass er zu seiner großen Enttäuschung fast nie etwas anzeigte.
Ein Summen bei annähernd 120. kHz ließ ihn lauschend innehalten.
Die Carbonitpumpe, der Ersatz seines organischen Herzens, begann schneller
zu schlagen; der Adrenalinstoß, der seine Neugier entfachte,
war zwar gedämpft, aber echt. F.J. ließ sich von seinen
Thermosensoren leiten. So unscharf wie dieses Mal hatte er das Wärmebild
seiner Umgebung nicht in Erinnerung gehabt. Verwirrt kehrte er zur
gewohnten Wahrnehmungsbandbreite zurück und lauschte angestrengt.
Was konnte ein derartiges Geräusch erzeugen? Vibrationen...Resonanzen,
die sich in den halbplastischen Wänden des Gebäudes fortsetzen?
Was sollte es auslösen?
Während er sich mit schwerfälligen Gelenken näher an
die Geräuschquelle heranzupirschen versuchte, ohne sie mit dem
Dröhnen und Surren der eigenen Mechanik zu überdecken, ärgerte
er sich, das gelgelagerte ultraleichte Prothesenset gegen diese fossilienhafte
Hardware eingetauscht zu haben. Mit einem Ruck blieb er stehen.
Das bläuliche Glimmen an den ausgefransten Rändern einer
sehr eigenartigen Öffnung im Boden schien sich in Gesichtshöhe
an den runden, etwa kopfgroßen Konzentratorknoten mehrer Leitungen
zu verdoppeln. Eine partikelförmige Substanz schien wie feiner
Glitzerstaub aus einer Düse auszutreten, um sich als Nebel auf
den beschädigten Modulen niederzuschlagen. F.J. machte sich keine
Sorgen darum schädliche Gase einzuatmen. Der Filter würde
sie ohne sein Zutun entfernen und in ungiftige Bestandteile zerlegen.
"Nanobots", flüsterte er in die
für gewöhnliche menschliche Wesen wahrnehmbare Stille hinein.
Fasziniert wie ein Junge, der zum ersten Mal eine Eidechse beobachtete,
ließ er sich in die Hocke sinken, um die winzigen Reflexe auf
einer fast unsichtbaren Membran zu beobachten, die sich fast unmerklich
langsam in solide Substanz zu verwandeln begann. Sie wirkten und strikten
in unmessbarer Geschwindigkeit: Hundert Milliarden molekülgroßer
Nanoroboter, die für die Dauer ihres Arbeitsauftrages ein einziges,
hochgradig dynamisches Netzwerk bildeten. Das, was ein menschliches
oder elektronisches Auge zu erfassen vermochte, waren nicht die Nanobots
selber sondern die winzigen Partikel ihrer Fracht, die sie fast unendlich
schnell in einem beliebigen Bauplan zusammenfügten. F.J. hätte
genügend Gelegenheit gehabt ihr Werk in der eigenen Wohnzelle
zu beobachten. Aber er hatte es gewöhnlich vorgezogen, sich in
der Rekreationsnische zu entspannen oder stattdessen eine Synopse
aufzusuchen. Aus Sicherheitsgründen hielt er sich von den Bots
fern, um nicht durch unnötige Magnetfeldquellen ihre filigrane
Kommunikation zu stören.
Es verging einige Zeit, bis ihm bewusst wurde, was ihn dazu veranlasst
hatte, im Schein einer Bioluminiszenz sich von ihrer ätherischen
Arbeit gefangen nehmen zu lassen. War es die Größe der
Öffnung, der Zustand ihrer Ränder? Ein dünnes, netzartiges
Fasergerüst, wie eine Art Stützgewebe, hatte sich über
das Loch gespannt, als sollte daran die eigentliche Substanz aufgebaut
werden. Am Ende würde niemand mehr in der Lage sein, eine Strukturbeschädigung
festzustellen.
"Was hat so eine Beschädigung bewirken können?"
hörte er sich gedankenverloren murmeln.
"Entfernen Sie sich umgehend aus der Wartungszone", antwortete
eine Stimme in seinem Kopf, als habe er sie durch seine unvorsichtige
Äußerung geweckt. "Der Aufenthalt ist hier nicht gestattet."
"Ja, natürlich", erwiderte er hastig. "Aber wie
hat das passieren können?"
"F.J. NetCitizen Steinmann, Sie befinden sich widerrechtlich
in einer ausdrücklich für den Zutritt gesperrten Zone. Ich
muss Sie darauf hinweisen, dass ich Sie, wenn Sie meine Aufforderung
ignorieren, zwangsfernlenken kann."
Das Netz, dachte F.J. alarmiert. Ich kann es mir nicht leisten, derartige
Einträge in meinem Dossier zu sammeln, wenn ich innerhalb der
nächsten 3 Jahre nach Stufe 2b befördert werden will.
Der Gedanke an die scheinbar achtlos offenstehende Schleusentür
und das seltsam gezackte Loch ließ sich nicht so leicht abschütteln.
Als er gemeinsam mit einigen hundert NetCitizens durch einen gewaltigen
blütenförmigen Fallschacht in den kugelförmigen Veranstaltungssaal
schwebte, fragte er sich, warum er nicht die Gelegenheit genutzt hatte
einen Blick ins Innere der Öffnung zu riskieren. Vermutlich befanden
sich darunter nur Abschirmungen und Spulen für den Schleppfeldgenerator,
versuchte er sich zum wiederholten Mal zu Besinnung zu bringen.
Der Saal glich einem Blitzlichtgewitter, das in einer gläsernen
Kugel mit einem Durchmesser von etwa zweihundert Meter gefangen war.
Dafür, dass der Konvent in mehreren ausführlichen Werbeclips
angekündigt worden war, verloren sich die spärlichen 45.000
Besucher beinahe zwischen den spiralförmigen Windungen einer
kühnen Konstruktion aus Handläufen und Getränkeleitungen.
Es herrschte Zero G in der Kuppel. Scheinbar desinteressiert ließ
er sich an farbig pulsierenden Klumpen von metallischen und amorphen
Körpern entlangtreiben, die sich zu einem Link zusammengefunden
hatten. Schrilles Gelächter und misstönende Stimmen hüpften
wie Gischttropfen über einen Ozean aus wummernden pulsierenden
Synthesizerklängen. Holographische Projektionen bewirkten gelegentlich
die Illusion ineinander verschmelzender Gasblasen in einem riesigen,
sachte vor sich hinsiedenden Kessel.
Allmählich gewann das Gefühl in F.J. die Oberhand, die denkbar
unglücklichste Auswahl bezüglich seiner Exoprothesen getroffen
zu haben. Anscheinend gehörten filigrane spinnenartige Konstruktionen
zu den neuesten Trends. Möglichst fremdartig und asymmetrisch
schien der Designhit zu sein. F.J. ließ den Blick verdrießlich
an seinen glatten, T-trägerförmigen Modulen entlang gleiten,
während er sich langsam senkrecht zur eigenen Körperachse
überschlug. Für diejenigen, die einen natürlichen Magen
besaßen, mochte die Schwerelosigkeit einen gewissen Reiz beinhalten.
F.J. war enttäuscht, vielleicht weil die Umgebung nicht allzu
geeignet war, die Wendigkeit leichtgewichtiger Gravolifter glaubhaft
zu demonstrieren.
Eine elfköpfige Performancegruppe, etwa in hundertfacher Größe
an die gewölbten Wände projiziert, bewegte sich zu schnellen
Rhythmen auf schlittenartigen Untersätzen. Ihre durchscheinenden
Tentakel schnellten wie die Lichtbänder einiger Tiefseefischarten
vor. Noch ehe er Gelegenheit hatte sich zu orientieren, hatten lichtdurchpulste
Tentakel ihn und exakt zehn andere Zuschauer am Handgelenk gepackt
und unter allgemeinem Applaus in die Gruppe der Gravoliftjockeys katapultiert.
"Hallo! Wen haben wir denn da?" schallte eine Stimme fröhlich
durch 628m Raumumfang.
Unfähig etwas zu antworten hatte sich sein Blick in den roten
zuckenden Lippen über geschliffenen Kristallzähnen verloren.
"Aus welchem Museum bist du denn entsprungen?" Glockenhelles
Lachen perlte auf.
Wütend versuchte er den Tentakel von seinem Handgelenk zu reißen.
Dabei geriet er in eine heftige unkontrollierte Trudelbewegung: ein
Grund mehr für die Stimme in belustigtes Gelächter auszubrechen,
in das einige tausend Zuschauer fröhlich einstimmten.
"Du solltest dein altes Eisen gegen einen Gravolifter eintauschen."
Die Tentakel schienen Anstalten zu machen, ihm in aller Öffentlichkeit
Teile der Hardware abzumontieren.
Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, brüllte F.J.: "Untersteh
Dich mich anzufassen! Das ist Freiheitsberaubung!" Von der Wucht
der Verstärkeranlage vervielfacht musste seine natürliche
Stimme während dieser Momente tatsächlich einem Tornado
geglichen haben, der selbst das dumpfe Hallen der Musik übertönte.
Unvermittelt ließen die Tentakel los. Empörte Stimmen waren
zu hören, wie er sich so aufregen könne. Andere würden
sich glücklich schätzen einen Gravolifter zu gewinnen.
"Ich habe genug Credits übrig um mir selbst einen zu kaufen",
stieß F.J. trotzig hervor, ehe ihn Berührungen aus dem
Zentrum der Kuppel hinausbeförderten. Benommen und von einer
geradezu kindischen Enttäuschung gelähmt, versuchte er den
freien Fall zu einer Getränkebar zu lenken. An das, wonach er
sich noch eben gesehnt hatte, verschwendete er keinen einzigen Gedanken
mehr.
F.J. betrank sich weit über die empfohlenen Grenzwerte hinaus
mit hochprozentigem Alkohol. Obwohl die künstliche Leber hochdosierte
Enzyme produzierte, geriet sein Spiegel an Blutalkohol ziemlich schnell
außer Kontrolle. In seinem Hirn explodierte lautlos eine Bombe.
Ein Feuerwerk verzerrter Geräusche und stroboskopisch aufblitzender
Farben prasselte durch die Kanäle seiner Sensoren auf sein betäubtes
Gehirn ein. Den Rest besorgte die unverändert aufgehobene Schwer-kraft.
Plötzlich hatte er jeden Anhaltspunkt zur Orientierung – ein
Unten und Oben existierte im freien Fall nicht mehr – verloren. Fast
besinnungslos taumelte er durch glitzernde Wolken fragiler Hardware-Konstruktionen
und betäubender Pheromone. Am Entsetzlichsten waren daran bunte
Blitze, die sich in wabernde und schließlich stillstehende Moirestreifen
verwandelten. Hätte F.J. einen biologischen Magen besessen, hätte
ihn nichts mehr zurückgehalten seinen Mageninhalt von sich zugeben.
Irgendwie gelang es ihm den Traktorstrahl des Aufzugs zu erreichen.
Aber der plötzliche Auftrieb, der die Schwerelosigkeit in ein
Oben und Unten dividierte, verstärkte nur das Gefühl von
Schwindel. Verzweifelt, wie er war, presste er die plumpen mechanischen
Greifer an den Schädel. Am liebsten hätte er sich die Videosensorik
aus dem Gesicht gerissen, wäre er dazu in der Lage gewesen. Ihm
wurde kaum bewusst, dass er sich an das flexible Chassis eines Besuchers
klammerte, als sein von Störungen überlastetes optisches
System ohne sein Zutun zusammenbrach.
Eine fast durchscheinende Gestalt, die annähernd einem Meerestier
glich, beugte sich über ihn, als die ersten, zu erkennbaren Mustern
zusammengesetzten Signale einen Weg in sein Bewusstsein fanden. Erschöpft
fielen ihm wieder die blendenartigen Augenlider zu, ehe er Kraft fand
das Bild, was sich ihm darbot, zu erforschen.
"Wo... befinde ich mich hier? Das ist nicht meine Wohnzelle...
Was hat das alles zu bedeuten?"
Die Gestalt richtete sich langsam auf. Die Module in ihrem Inneren
wirkten durch die helltrübe plastische Haut wie Einschlüsse
in Quarzkristallen. "Du hast etwas über deinen Bedarf hinaus
nachgetankt, Bruder. Glücklicherweise wohne ich nicht weit von
der Mercatorhalle entfernt. So hatte ich Gelegenheit dich mitzunehmen,
um dir gleich eine Blutsurrogattransfusion zu verabreichen. Was hast
du dir eigentlich dabei gedacht deine chemischen Komponenten so zu
überlasten?"
Ächzend drehte F.J. den Kopf zur Seite. "Ihr redet alle
mit mir wie mit einer zwar zu gewissem Denken fähigen, aber schrottreifen
Maschine. Ich bin ein Mensch, hörst..." Von einem plötzlich
aufbrausenden Kopfschmerz getroffen, ließ er den Kopf kraftlos
in die Mulde zurücksinken. "O verdammt, was habe ich nur
getan..."
"Du hast dir eigentlich nur einen über den Durst getrunken.
Sei froh, dass du in keinem Wiederherstellungscenter gelandet bist.
Die Servorobots dort verstehen keinen Spaß."
"Was ist das nur für eine Welt... Gott, was für eine
Welt, in der es verboten ist sich zu betrinken?"
"Ein Drink ist kein Problem, wenn man die richtige Kartusche
eingeschoben hat. Anders sieht das mit fahrlässigen Selbstzerstörungsversuchen
aus."
Erneut hatte er Kraft gesammelt, um die Gestalt eingehender zu betrachten.
Aber irgendetwas schien nicht zu stimmen, nicht mit der Weise, wie
sie ihn behandelte, sondern wie er sie wahrnahm. Es musste an der
optischen Auflösung liegen. "Ich muss nach Hause",
sagte er nur, "sag mir, wie viele Credits ich dir schulde, damit
ich sie dir gleich auf dein Konto gutschreiben kann."
"Du bist Stufe 2c, stimmt’s?" erkundigte sich die Gestalt
nachsichtig.
"Was tut das zur Sache?" schnappte F.J..
"Wenn du Schwierigkeiten mit dem Videosystem hast, solltest du
das sofort in Ordnung bringen lassen. Ich kann dir hier leider nicht
helfen, weil der G A auf meine persönlichen Bedürfnisse
eingestellt ist. Vermutlich hat die Erschütterung durch den Sturz
einige Kontakte gelockert. Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen
musst."
"Wie tröstlich", hörte sich F.J. flüstern.
Sie hat also versucht mich zu scannen.
"Im Übrigen, mein Name ist B.E. Citizen Hallstadt."
Sie reichte ihm einen Chip. "Du kannst mit mir eine ICQ-Verbindung
aufbauen, wenn du möchtest."
"Danke für deine Hilfe, B.E." Mühsam versuchte
sich F.J. aufzurichten. Obwohl das Surrogat frisch war, schienen die
Kopfschmerzen nur darauf zu lauern, dass er leichtsinnig genug war
sich zu bewegen.
"Denk immer dran, dass du ein Cyborg bist, Bruder. Es ist wirklich
unverantwortlich, dass die an den Ausschänken in der Markatorhalle
keinen Bioscan durchführen, bevor sie einen Drink abgeben. Nur
zur Sicherheit, meine ich. Und was du über Menschen sagtest,
solltest du besser schnell vergessen. Ein Mensch wäre in dieser
Welt nicht zehn Minuten lang überlebensfähig. Schätz
dich glücklich, dass du in einer Zeit gezüchtet worden bist,
da die biologische Evolution längst durch eine technische abgelöst
wurde; denn die Welt, in der wir leben, haben wir selbst entworfen."
"Simulationscomputer haben sie entwickelt."
"Ein Stück von diesem Computer steckt in unseren eigenen
Köpfen, wir sind ein Teil des Netzwerks, das die Gesellschaft
dieser Zivitale schützt und unterhält. Stell dir ein nacktes
menschliches Wesen ohne bionische Implantate vor. Es ist nichts anderes
als ein Stück zuckendes hormongesteuertes Fleisch, kaum fähig
an kognitiven Prozessen von wirklicher Bedeutung teilzunehmen. Es
gibt nur einen Bestandteil, der menschliches Leben auszeichnet; das
ist der graue, dicht verknüpfte Haufen an Neuronen und Synapsen
in deinem Schädel. Der Ballast an Fleisch behindert nur sein
Denkpotenzial."
"Darf ich raten, für welchen Bereich du tätig bist?"
Sie nickte, während über der Projektionsfläche ihres
Gesichtshelms ein menschliches lächelndes Gesicht sichtbar wurde.
"Ja, bitte!"
"Liege ich völlig verkehrt mit der Behauptung, du erstellst
Animationsclips für das Netz?"
"1:0 für dich, F.J." Sie ließ ein silbernes Lachen
hören. "Du lässt von dir hören?"
"Damit du vorgewarnt bist: Ich kann frühestens in 2,7 Jahren
eine Lizenz für eine Lebensabschnittpartnerschaft erwerben."
"Dummkopf!" Sie schüttelte belustigt den Kuppelhelm.
"Treffen kann man sich überall, ohne gleich einen Eintrag
ins Dossier zu riskieren."
Immerzu kreisten seine Gedanken um die Warnung
des G A, die er als völlig übertrieben verworfen hatte.
Dass aber die Auflösung des Hauptvideosensors um den Faktor 1
geschrumpft war, raubte ihm die letzte Ruhe. Während er sich
von den Traktorfeldern durch die endlosen Röhren erleuchteter
Tunnel bugsieren ließ, wiederholte er ständig den gleichen
Selbsttest. Natürlich brachte der kein Ergebnis, da er nur eindeutige
Betriebsstörungen nachzuweisen vermochte. Eine Lösung finden
konnte nur der persönliche Gesundheitsassistent. Die Sorge um
sein Augenlicht ließ alle Gedanken an die seltsame Entdeckung
in den Hintergrund abtauchen. Vermutlich handelte es sich wirklich
nur um eine simple technische Störung; etwas, was von einem Schwarm
Nanobots innerhalb weniger Minuten spurlos beseitigt werden würde.
Kaum hatte er sich durch die Schleuse zur Wohnzelle 273-45 gedrängt,
wies er den G A zu einer sofortigen Generalinspektion an. Ein Fehler
dieser Gewichtigkeit konnte nicht hinterfragt werden. Das war auch
gut so, denn F.J. wäre außerstande gewesen den freundlichen,
aber nervenraubenden Ermahnungen und Hinweisen zuzuhören. Je
schneller Abhilfe geleistet wurde desto besser. Niemand hatte ein
Recht ihn als altes Museumsstück zu schmähen, am wenigsten
ein geistloses Wesen mit einem Chipsatz von der Größe eines
halben Daumennagels, das sich mit Gelegenheitsjobs als Animateur bei
drittklassigen Konvents verdingte. Wenn die Ersatzteilkosten höher
waren als erwartet, dann musste der Gravolifter bis zur nächsten
Dekade warten.
Als sich F.J. einen Satz leichter Exoprothesen anlegen ließ,
ahnte er etwas. Zwar waren die Kopfschmerzen rückstandslos verflogen;
doch die Erscheinung, die der Grund für seine eigentliche Beunruhigung
war, prägte sich, wenn auch etwas gemindert, weiter in sein Gehirn.
"Das Ergebnis ist nicht zufriedenstellend", stellte er missgelaunt
fest. "Warum kann meine Sehleistung nicht weiter optimiert werden?"
"Ich möchte dich keiner unnötigen Aufregung aussetzen,
F.J., doch den Defekt, den ich feststellen konnte, habe ich vollständig
behoben. Ich habe deine synaptischen Verbindungsstellen durchgecheckt
und korrigiert, soweit es mir möglich war. Aber mehr als derzeitig
93,2 % Leistung können nicht erzielt werden."
"Bitte erkläre mir, wieso der Fehler nicht hundertprozentig
beseitigt werden kann?"
"Ich habe Grund zur Annahme, dass ich den Leistungsschwund weiter
dämpfen kann", erwiderte der persönliche G A geschäftig.
"Das ist nicht die Antwort auf meine Frage."
"Es tut mir leid, aber ich muss dich korrigieren, F.J.. Die Implantate
arbeiten zu hundert Prozent korrekt. Die Ursache liegt in der synaptischen
Schnittstelle."
"Was soll das heißen?" schnappte der andere. "
Warum sind die Nanobots nicht in der Lage sie in den Ausgangszustand
zu versetzen?"
"Wir haben es mit einem Prozess zu tun, F.J. Deine biologischen
Immunreaktionen zeigen eine Bereitschaft Nanobots als Antigene zu
neutralisieren. Dies hat sich in den letzten beiden Jahren proportional
verstärkt."
"Warum habe ich nicht eher davon erfahren?" Bestürzt
wandte er das Gesicht zum Wandschirm.
"Bisher gelang es mir den Defekt innerhalb der Toleranzgrenzen
zu regulieren. Allem Anschein nach hat dein Organismus eine Hypersensibilität
bezüglich körperfremder Implantate entwickelt."
"Es muss doch eine Möglichkeit geben dies mit gentechnischen
Verfahren in Grenzen zu halten." Von nagender Angst ganz klamm,
presste sich F.J. die schmalen anatomischen Greifer fest gegen die
Lippen.
"Ich werde weiterhin tun, was in meiner Macht steht, F.J. Wenn
es angezeigt sein sollte, werde ich täglich dein Nervengewebe
durch einen Schwarm Nanoroboter inspizieren lassen. Sollte dies nicht
ausreichen, kann ich dich mit auf dein Bioprofil programmierten Retardkapseln
versorgen. So weit die Daten es zulassen eine Hochrechnung durchzuführen,
schätze ich, dass dir wenigstens zwanzig Jahre bleiben, ehe eine
ernsthafte Einschränkung deiner Leistungsfähigkeit einsetzen
wird."
"Zwanzig Jahre! Mit viel Glück und gutem Willen gelingt
es mir, bis dahin Klasse 1d zu erreichen. Wenn nicht..." Er unterbrach
sich selbst, ohne aufzublicken. "Es sind fast sieben Prozent,
G A."
"Das ist ein vorübergehender Wert, F.J. Ich gehe davon aus,
dass du bald wieder 97, vielleicht 98 Prozentpunkte erreichen wirst."
"Die Funktionsfähigkeit der Implantate ist lebenswichtig
für mich." Seine Stimme zitterte fast unkontrolliert.
"Daran besteht kein Zweifel. Ich werde das Netzwerk um Unterstützung
bitten eine maßgeschneiderte Gentherapie für dich auszuarbeiten.
Dann sind nur gewisse Analysen einer Probe deines Nervengewebes notwendig,
für die ich keine apparative Ausstattung besitze. In spätestens
48 Stunden, schätze ich, wird ein Ergebnis vorliegen."
"Solange", war F.J. versucht aufzubegehren. Aber er begriff,
dass der G A nicht im Sinn hatte ihn zu verhöhnen. Doch trotz
ausgefeilter nanotechnischer Verfahren defekte Gene zu reparieren,
bestand immer die Gefahr, dass nicht alle Zellkerne der 100 Milliarden
Nervenzellen eines durchschnittlichen zentralen Nervengewebes erreicht
oder fehlerhafte Reparaturen am DNS-Strang durchgeführt wurden.
Aber unter den gegebenen Umständen schien es die einzige vertretbare
Möglichkeit zu sein, zumindest das derzeitige Leistungsniveau
zu erhalten und weitere Zerstörungen zu verhindern.
55,7 Stunden später stand F.J. mit dem Rücken an eine Schleusentür
gelehnt und glaubte um Atem ringen zu müssen. Sein gewöhnlich
bleiches, unter den Montierungen des ausladenden Optomoduls beinahe
angenehm geschnittenes Gesicht wirkte gelblich, seine Lippen zitterten.
Hätte er organische Augen, wenigstens Tränendrüsen
besessen, hätte ihn wahrscheinlich nichts daran hindern können,
seinem innersten Wunsch nachzugeben und einfach zu weinen.
"B.E.!" flehte er verzweifelt. "B.E., mach doch auf!"
Es schien eine halbe Unendlichkeit zu vergehen, ehe sich endlich ihr
persönliches Begrüßungsvideo ausblendete und einer
Liveübertragung der Innenansicht des Appartements mit der Nummer
483-21 wich. Die Eigentümerin stand mit vor der Brust verschränkten
Armen unter der Kamerakuppel, als sei sie von der Unterbrechung ihrer
Onlinesitzung mehr als nur unerfreut.
"Wer ist da?" schnappte sie nur, während ihr die Bildübertragung
der Türkamera die Rückenansicht des Besuchers übertrug.
Der Umriss auf dem Display wandte sich langsam um. An dieses glatte,
aber nicht allzu weiche Kinn glaubte sie sich erinnern zu können.
"F.J. NetCitizen Steinmann. Bitte verzeih, dass ich dir keine
Videomail habe zukommen lassen. Ich... ich konnte einfach nicht. -
Was ist eigentlich los, mit dir F.J.? Du siehst ja aus, als hättest
du draußen in der Atmosphäre einen Spaziergang gemacht
und wärest dabei von einem sauren Regenguss überrascht worden."
Leicht verspätet wurde ihr klar, dass es weder üblich noch
zweckmäßig war, ein Gespräch, das wohl nicht für
andere Ohren bestimmt war, ausgerechnet über die Videoeinrichtung
eines Appartements zu führen. Dabei war weniger als ein Gedanke
nötig die Türe zu öffnen.
Als sie F.J. ins Innere der Rekreationsnische dirigierte und dabei
wieder auf der Konturliege Platz nahm, wirkte er merkwürdig orientierungslos.
Seine grünschimmernden Greifhände waren in ständiger
unsinniger Bewegung, während die Felder seiner Videosensoren
nach Fugen im Boden Ausschau zu halten schienen.
"Mit deinem Besuch habe ich wirklich nicht gerechnet, F.J. Du
hättest ihn wenigstens vorher ankündigen können, dann
hätte ich meine Onlinezeit anders eingeteilt. Ich habe heute
eine ganze Menge zu tun, das ich termingerecht fertigbekommen muss.
Das Netz hat nicht viel über für Unpünktlichkeit, vor
allem dann, wenn es über mögliche Gefährdungen von
Terminplänen nicht in Kenntnis gesetzt wurde."
"Das Netz", geradezu heftig riss er den Kopf hoch und blickte
sie voll an, "kann warten. Es gibt verdammt noch mal 650 Millionen
Individuen in der Zivitale, von denen wohl einige in der Lage sein
sollten deine Aufgaben zwischenzeitlich zu übernehmen. Das Netz,
das Netz! Ständig lassen wir uns von Terminplänen, Zeitkontingenten,
Empfehlungen und Routinen gängeln, als sei es bereits eine Ordnungswidrigkeit,
mit einem Menschen zu sprechen, wenn uns danach ist. Ich meine, von
Angesicht zu Angesicht. Sind wir denn deshalb Maschinen, weil wir
es irgendwann einmal vorgezogen haben, die Ausstattung und Gestaltung
unserer Körper selbst zu bestimmen?"
"Natürlich nicht, F.J. Aber es gibt eine gewisse Bürgerpflicht,
die jeder in dieser Zivitale zu erbringen hat. Wie sollte ein soziales
Gefüge, dass so umfangreich und vielschichtig ist wie dieses,
überhaupt noch funktionieren, wenn jeder treibt und lässt,
was ihm gerade in den Sinn kommt? Im V R hast du genug Gelegenheit
dazu. Die Zivitale ist keine Kleinstadt des 21. Jahrhunderts."
"Um nichts anderes geht es mir doch!" begehrte F.J. verzweifelt
auf und senkte wieder den Blick. "Was wird aus einem Individuum,
das aus irgendeinem Grunde nicht mehr in der Lage ist seinen bisherigen
Platz auszufüllen?"
"Das Netz wird ganz den persönlichen Umständen entsprechend
einen neuen Platz für ihn finden." Sie hatte sich vorgebeugt
um wie tröstend über seine Hände zu streichen. "Du
machst dir doch nicht etwa Soge über eine mögliche Umgruppierung?"
"Nein", erwiderte er kläglich. "Es stimmt etwas
in meinem Kopf nicht, ich meine mit meinem Nervengewebe. Die organischen
Teile meines Organismus scheinen sich ohne ersichtlichen Grund von
den technischen Komponenten trennen zu wollen. Mein G A hat mich für
eine Gentherapie vorgeschlagen und das Netz um Unterstützung
ersucht. Dieser Defekt ist nicht therapierbar, B.E.! Alle Analysen
haben ergeben, dass es keinerlei Defekte im Genset gibt und die Biowerte
völlig in Ordnung sind. Trotzdem geschieht etwas in mir, was
über mehr kurz als lang zum Verlust meines Augenlichts und Hörvermögens
führen wird. Allmählich wird meine geistige Kapazität
auf das Ausmaß eines kleinen Klumpens grauer Materie schrumpfen
und selbst die tägliche Rekreation mit verstärktem Einsatz
von Nanobots wird die Schädigungen nicht dauerhaft regenerieren
können. Das Netz teilte mir mit, der Zerfallszyklus werde immer
kürzer. Ich werde keine zwanzig Jahre mehr überbrücken
können, noch nicht einmal die 2,7 bis zu meiner Beförderung
in Klasse 2b."
"Das tut mir wirklich schrecklich leid für dich, F.J."
Echtes Mitleid ließ ihre Stimme ganz dunkel klingen. "Doch
ich habe noch nie etwas von so einem Fall gehört."
"Weißt du, was das heißt, wenn selbst Nanoroboter
nicht mehr in der Lage sind diese Sache unter Kontrolle zu halten?
Es gebe..." Es war sinnlos weiterzusprechen, wenn die Konsequenzen
so deutlich auf der Hand lagen.
"Ich könnte mir vorstellen, dass dir das Netz unter diesen
speziellen Umständen eine Sondergenehmigung erteilt früher
1d zu erhalten. Es ist dir gegenüber in der Fürsorgepflicht,
vergiss das niemals, F.J.. Es kann dich nicht einfach hängen
lassen."
"12,35 Jahre. Das ist für mich der definitiv früheste
avisierbare Zeitpunkt, in das Skycloud-Netzwerk aufgenommen zu werden.
Das Geflecht hat mir unzweifelhaft klargemacht, vor diesem Zeitraum
kann es keine Kapazitäten einräumen. Hochgerechnet gibt
es außer meinem eigenen 874.371.998 andere Ansprüche zu
berücksichtigen, die sich nicht einfach beliebig wegen eines
einzelnen unvorhersehbaren Anspruchs umdisponieren und verschieben
lassen. Oh, B.E.!" Hoffnungslos wie er war, ließ er sich
zurücksinken und bedeckte seine Optik mit beiden Händen.
"Armer F.J., es ist nicht an der Zeit den Mut sinken zu lassen.
Ebenso zufällig, wie er anscheinend gekommen ist, könnte
der Effekt, von dem du sprichst, wieder von alleine verschwinden.
Dafür gibt es keine Zahlen."
"Du hast wohl recht", antwortete er mit vager Zuversicht.
"Noch vor zwei Jahren hatte das G A nicht den geringsten Hinweis,
nicht ein Part per Billion, festgestellt."
"Siehst du? Nun geh nach Hause und lass uns unsere Arbeit tun,
ja? Wir können uns ein anderes Mal wieder treffen, wenn du möchtest.
Um Punkt 2300 in der Immermannhalle findet ein Konvent statt, um Klassen
besser als die in der Mercatorhalle, glaub mir. Er wird dich auf andere
Gedanken bringen."
"Ja, B.E., ich werde mich bei dir melden." F.J. war zögernd
aufgestanden. "Ich glaube, jetzt habe ich mich wieder so weit
im Griff."
"Das ist gut so, F.J. So leicht wird keiner zum alten Eisen geworfen,
vertrau mir."
Vertrauen.
Wie konnte man auf etwas vertrauen, wenn noch nicht einmal eine Statistik
existierte, die einen Anhaltspunkt dafür lieferte. Selbst die
Prognose des Geflechts, die im allgemeinen absolut zuverlässig
war, schien die künftige Entwicklung nicht mit der Präzision
zu erfassen, die für alle anderen Bestandteile des Systems zutraf.
F.J.‘s Beunruhigung linderte sich nicht. Im Gegenteil, je mehr Tage
vergingen, desto tiefer fraß sich der Zweifel in sein Herz.
Selbst winzigste Leistungseinbußen, die der G A immer häufiger
nach einer Rekreationssitzung feststellte, brachten F.J. in Panik.
Er kaufte das leistungsfähigste optoakustische Modul, das zur
Zeit auf dem Markt war, und schöpfte dafür seinen Kreditrahmen
bis drei Dekaden in die Zukunft aus. Er hoffte so, das Leistungsdefizit
in Grenzen halten zu können. Ein riesiger zusätzlicher Adressraum
aus enggekoppelten Optochips, den er sich transplantieren ließ,
veranschlagte weitere sieben Dekaden. Mit dieser Ausstattung hätte
man ihn leicht für ein Mitglied der Klasse 2a halten können.
Oh weh, wenn sich jemand danach erkundigte, wofür er seine gewaltigen
Kapazitäten verwandte!
Doch die vom Gesundheitsassistenten genehmigte Onlinezeit schrumpfte
zusehends.
F.J. nutzte die zusätzliche Freizeit, mit der er wenig anzufangen
wusste um durch die einzelnen Sektionen der Stadt zu streifen. Im
Laufe seines dreiunddreißigjährigen Lebens hatte er noch
nie die Grenzen der Zivitale verlassen, um eine der anderen Zivitalen,
die den Globus wie ein Gespinst überzogen, zu besuchen. Um all
die Materie bereitzustellen, die notwendig war, die Zivitalen aufzubauen
ohne die Struktur der Erdkruste ernsthaft zu destabilisieren, wurden
die zusätzlichen Rohstoffe aus der Oberfläche des Mondes
abgebaut. Vor weniger als 150 Jahren hatte das globale Geflecht die
Entscheidung zu Ungunsten der Mondkolonien getroffen und sich damit
organisatorisch und funktional von den 80 Milliarden Exokolonisten
abgespalten, die die Planeten des Sternensystems besiedelten. Seit
diesem Zeitpunkt verließ kein Raumfrachter des Erd-Mond-Systems
den erdnahen Orbit.
Aber die Planetenkolonien hatten F.J. nie interessiert. Abgesehen
von der Entfernung zur Sonne unterschied sie sich nicht im Geringsten
von dem Zustand auf der Erde. Das Individuum an sich, die Bewohner
der Mars- oder Saturnzivitalen, hatten keine Gelegenheit herauszufinden,
worin sich künstlich erzeugte Schwerkraft von einem künstlichen
System unterschied. Die Zusammensetzung oder Druckverhältnisse
einer Atmosphäre, mit der man nie in Berührung kam, hatte
lediglich für bestimmte Merkmale der Architektur Bedeutung.
Noch nie war F.J. so dicht an die Randzone vorgedrungen wie jetzt.
Ersichtlich wurde dies für ihn auch nur durch die Koordinaten,
die das Leitsystem an ihn übertrug. Ansonsten änderte sich
nichts am Bild des unterirdisch oder oberirdisch angelegten Labyrinths
an Tunnelgängen, die er durchquerte. Wer sich innerhalb einer
Zivitale befand, konnte durchaus der etwas aberwitzigen Vorstellung
verfallen, sie bilde einen kleinen Globus für sich. Schon längst
glichen sie Globulen im Gesamtsystem des erdumspannenden Geflechts.
F.J. schrak recht unsanft aus seinen hochfliegenden Überlegungen,
als sich ein rotes Warnfenster über sein Umgebungsbild legte
und ihm dabei die Sicht auf die Sache versperrte, die seine Aufmerksamkeit
gefunden hatte. Zum zweiten Mal innerhalb nur weniger Monate war er
aus nicht mehr nachvollziehbarem Grund vom Weg abgeirrt und statt
in die beabsichtigte Abbiegung in einen geöffneten Wartungsschacht
eingebogen. Diesmal hatte er überhaupt keinen Atem, sich mit
dem Inhalt der Warnmeldungen auseinander zu setzen und ließ
sie einfach aus seiner Wahrnehmung filtern. Mit einer so unverhofften
Gelegenheit hatte er unter keinen Umständen gerechnet. Da hatte
sie ihn wieder in ihren Bann gezogen, die jungenhafte Neugier, die
in ihm einen mitunter erstaunlichen Forscherdrang auslöste. Solange
er sich ins Bewusstsein rief, dass er sich unter keinen Umständen
durch eine Lautäußerung verraten durfte, solange würde
ihn kein Automatismus aus dem Gang entfernen.
Geleitet von der schwachen Bioluminiszenz, die die runden, mit Leitungen
durchzogenen Gangwände erhellte, ließ er sich einige Meter
ins Innere hineinführen. Diesmal war es kein hochfrequentes Geräusch,
das selten erlebte, anregende Adrenalinstöße in seinem
Kreislauf freisetzte. Um ein Haar wäre er in eine Öffnung
im Boden gestürzt, die in keinem topographischen Plan verzeichnet
war. Der Boden wirkte beinahe, als hätte sich darüber konzentrierte
Säure ergossen. Doch schien diesmal weniger Zeit nach der Ursache
vergangen zu sein, denn es gelang ihm nicht einen Zustrom von Nanobots
ausfindig zu machen, die die notwendigen Reparaturarbeiten durchführten.
Verwundert ließ er sich auf die Knie nieder. Dass das Netzwerk
diese Beschädigung nicht realisiert hatte, konnte er sich kaum
vorstellen, ohne sich selbst der Absurdität dieser Vermutung
bewusst zu werden. Sorgsam im schartigen Rand der Öffnung verankert,
beugte sich F.J. so weit vor, dass sein Kopf bis zu den Schultern
in ihrem Inneren verschwand. Diesmal musste er sich nicht auf die
ärgerlich geringe Auflösung eines Wärmescanners verlassen.
Der Radonlaser, der zur Ausstattung seines Optomoduls gehörte,
begann nach und nach Einzelheiten aus dem schwarzen Inneren herauszumeißeln.
Er spürte, wie die Carbonitpumpe in seinem Inneren einen Hopser
machte, fast als erschauderte ein biologisches Herz in seiner Brust.
Sein Atem wurde hastiger.
Allmächtiges Geflecht, dachte er bestürzt, was ist denn
das? Der Abtaststrahl des Radonlasers zitterte nicht, dafür hielt
sich J.F. zu gut fest. Aber das, was sich allmählich vor seinen
ungläubigen Augen aus der lichtlosen Finsternis als ein sich
zu einem kleinen Raum erweiternder senkrechter Schacht herausschälte,
hätte leicht genügen können ihn kopfüber in die
Tiefe zu stürzen. Zwischen den zellenartigen Abschirmungen langgestreckter
Spulen, die das Traktorfeld bewegten, hatte er etwas ausgemacht, das
eindeutig nicht zur Ausstattung des Raums gehörte. Dieses Etwas
fuhr fort, ihn unverwandt aus Kugelaugen anzustarren. F.J. biss sich
auf die Lippen um nicht vor Entsetzen aufzuschreien. Einen Herzschlag
lang betäubte der metallische Geschmack nach Blut-surrogat sein
Befremden.
Das Ding in der stickigen warmen Zelle hatte die Arme fest um die
dürren Beine geschlungen, als wollte es ganz mit den unförmigen
Abschirmungen der Feldspulen verschmelzen.
"Das ist ein Lebewesen. Ein Ungeziefer im Transportsystem der
Zivitale?" Wieder ließ er den Laser über die eigentliche
Szenerie streichen. Das Ding hatte sich nicht bewegt.
Viel zu verwirrt um sich darüber bewusst zu werden, wie illegal
das war, was er da im Sinn hatte, schweißte er zwei Polymertrossen
an den Rand der Öffnung und begann sich langsam, aber entschlossen,
in die Tiefe herunterzulassen wie das mechanische Modell einer Spinne.
Die winzige verschränkte Gestalt fuhr fort ihn aus seltsamen
runden Augen anzusehen. Sie regte sich noch immer nicht. Hastig riskierte
F.J. einen Blick zur Gangdecke. Die Strahlung, die da unten zwischen
den Absorbern herrschte, ließ seinen Strahlungsdetektor gleich
Kaskaden von Warnmeldungen in sein Blickfeld einblenden, die er im
gleichen Moment aus seiner Wahrnehmung filterte. Das, worauf er sich
hinzubewegen begann, übertraf alle seine Vermutungen.
Ganz sachte, als könnte er das filigrane Gebilde eines Nanogitters
zerstören, streckte er den Arm aus. Trübe Augen durchdrangen
ihn wie die stickige Luft um ihn herum. Die Gestalt zuckte noch nicht
einmal zusammen, als er sie berührte. Wie trocken und brüchig
sich ihre Außenmembran anfüllte. Die Außenmembran,
rief er sich in Gedanken zur Ordnung, ist organische Haut! Die Gliedmaßen
dieses eigenartigen Wesens waren so grau und dürr, dass seiner
unterentwickelten Vorstellungskraft im Moment nichts einfiel um es
damit zu vergleichen. Die Knoten und Schnüre, die unter der Haut
an den gekrümmten Händen entlangliefen, glichen den Konzentratorknoten
über ihm im Leitungsnetz.Als er das Ding anstieß, sank
es lautlos, als verfüge es über keinerlei inneren Halt,
zur Seite. An was erinnerte ihn nur das Profil, was es ihm in dieser
zufälligen Haltung zuwandte? Gedankenvoll strich seine Hand über
die weiche glatte Haut an dessen Kinn. Er war außerstande etwas
zu empfinden. Seine Gedanken überstürzten sich. Heftiger
als ein Schlag traf ihn die plötzliche Erkenntnis.
"Es ist ein menschliches Wesen, allmächtiges Geflecht!"
Schlagartig erinnerte er sich an B.E.s Bemerkung über die mangelnde
Überlebensfähigkeit von natürlichen menschlichen Wesen
in dieser Umgebung. Als er sich endlich überwunden hatte, es
in allen Einzelheiten zu betrachten, wurde ihm bewusst, wie winzig
es war.
"Es muss ja noch ein Kind gewesen sein", stammelte F.J.
fassungslos.
Einige Meter über ihm begannen Nanobots mit ihrem fein oszillierenden
Gezirpe ihre Arbeit zu verrichten. Doch anscheinend hinderte die starke
Strahlung weitere Signale daran, zu ihm zu dringen oder die Überwachungsautomatik
auf seinen Aufenthalt aufmerksam zu machen. F.J. ließ sich im
entgegengesetzten Winkel des Raums zu Boden sinken.
Wie, überlegte er verwundert, wovon hat es sich so lange ernähren
können, bis sein Organismus schließlich versagte? Irgendwo
muss es sich doch die ganze Zeit unbemerkt vom Netz versteckt gehalten
habe. Wie seltsam... In diesem Augenblick fiel ein großer Teil
seiner Großhirnrindenerweiterung aus.
"Es ist ein guter Platz hier um über
die Dinge nachzudenken", sagte er sich, "um einen neuen
Blick für die Zusammenhänge zu entwickeln." Ähnlich
wie das Wesen neben ihm verschränkte er die Klauenhände
über der transparenten Mechanik seiner Kniegelenke und lehnte
den Kopf, der ihm mit einem Mal so schwer geworden war, gegen ein
Abschirmungselement. "Etwas ausruhen, nur etwas ausruhen. Es
bleibt ja noch viel Zeit, bis ich nach Hause zurückkehren muss
um mich pünktlich der nächsten Rekreationssitzung zu unterziehen."
Über ihm begann sich ein glitzerndes Gespinst
zu verdichten. Irgendetwas hatte die Haftstellen filigraner Polymerschnüre
entfernt. Schließlich behinderten Verunreinigungen nur den Wiederherstellungsprozess.
Mai 2002