Paradise # 55
Rezension
KIM STANLEY ROBINSON:
ANTARKTIKA
Heyne 1997
Hardcover
Umfang: 688 S.
Preis: 13 €
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DER AUTOR
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Kim Stanley Robinson wurde 1952 in den USA geboren.
1982 erreichte er den Magisterabschluss mit der Arbeit The
Novels of Philip K. Dick. Einem breiteren amerikanischen
Publikum bekannt wurde er durch seine „Orange
Country“-Trilogie, eine Geschichte der Pazifikküste
südlich von Los Angeles.
1992 erschien der monumentale Roman „Roter
Mars“, der Auftakt zu seiner weltberühmten
vielprämiierten Mars-Trilogie mit den Fortsetzungsbänden
„Grüner Mars“
(1994) und „Blauer Mars“
(1996), in der die Kolonialisierung des Roten Planeten detailliert,
lebendig und facettenreich geschildert wird. 1999 wurde ein
Ergänzungsband„Die Marsianer“
veröffentlicht.
K.S. Robinson ist inzwischen einer der angesehensten und erfolgreichsten
SF-Autoren der USA. Sein Publikum liebt die detaillierten Charakterzeichnungen
und, was nur wenigen SF-Autoren gelingt, die Verknüpfung
der HARD SF und SOFT SCIENCE, der Natur- und der Geisteswissenschaften.
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DER INHALT
Der Roman bewegt sich in einer ganz nahen Zukunft mitten
im 21. Jahrhundert.
Der Antarktisvertrag, der den Kontinent vor der Ausbeutung seiner
Bodenschätze bewahrt und aus-schließlich wissenschaftlichen
und, besonderer Genehmigung erforderlichen, touristischen Zwecken
geöffnet hat, ist gerade abgelaufen. Nun gilt es neu zu verhandeln
und so treffen im ewigen Eis der südpolaren Region die unterschiedlichsten
Interessen aufeinander:
Der Verlängerung des Vertrages stehen die Interessen
weltweiter Großkonzerne im Wege, die ihre Pfründe auf Antarktika
sichern wollen. 'Unermessliche' Bodenschatzvorkommen locken und die
Gier ist groß.
Die kleineren südamerikanischen und afrikanischen Anrainerstaaten
wittern ihre Chance, endlich durch eigene Ölfunde dort aus der
wirtschaftlichen Abhängigkeit von den westlichen Industrieländern
herauszukommen.
Wissenschaftler bestehen auf der Weiterführung ihrer Forschungen,
wichtiger als je zuvor, da die anderen Kontinente immer mehr unter
den Auswirkungen der globalen Erwärmung mit all ihren Klimakatastro-phen
zu leiden haben. Und eine Gruppe radikaler Umweltschützer will
die Antarktis als „letzte Wildnis der Erde“ vor jeglichem
zivilisierten Zugriff bewahren und schreckt nicht vor gewaltsamen
Wegen zur Erreichung ihrer Ziele zurück.
Vier Protagonisten begleiten den Leser auf dem Weg über
den antarktischen Kontinent, der viel später erst als der Mars
der Menschheit bekannt wurde und doch so viel mit ihm gemeinsam hat:
Die Kälte, das Fehlen von eigenem Leben, die extrem dünne
trockene Luft auf den Hochplateaus, und durchschnittliche Höhen
von mind. 2 km über dem Meeresspiegel ...
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Die großgewachsene bildhübsche
Amazone Val(erie) Kenning
ist ausgebildete Bergführerin, hat schon einige Achttausender
bestiegen und leitet nun Trekkingtouren über Eis und Gletscher.
Sie hat gerade eine kurze Liason mit dem nur einige Zentimeter größeren
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„X“
(so steht’s auf seiner Latzhose) abgebrochen, und der hilflos
romantisch veranlagte, junge Mann leidet noch schmerzlich darunter.
Er ist als GFA (General Field Assistant) in der MacMurdo Station
angestellt, was so viel bedeutet wie, die Drecksarbeiten erledigen
zu müssen. Nun hat er die Nase voll davon und wechselt zu den
südamerikanischen Ölbohrern ...
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Wade Norton
ist der Repräsentant des, sich Golfschläger schwingend
über den Erdball ar-beitenden, demokratischen Senators Phil
Chase und der Antarktis-Experte in dessen Hilfsstab, was soviel
heißt wie, Wade hat einmal einen Report über den Antarktisvertrag
verfasst. Das reicht Chase, um Wade zur Erkundung der Lage nach
MacMurdo zu schicken ...
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Ta Shu
ist Schriftsteller, Journalist und Geomantiker mit bemerkenswerten
Kenntnissen der uralten Feng Shui Harmonielehre. Er besucht im Rahmen
des Practical Artist & Writers Program für einige Wochen
MacMurdo. Das Publikum zu Hause in China und die Online-Welt kann
er an seinen Reisen mittels einer Multimediabrille teilhaben lassen,
die das, was er sieht und spricht, live übermittelt. Und so
erzählt er dem Leser auch die Historie Antarktikas, von den
bewegenden Schicksalen seiner Entdecker, ob sie Scott, Amundsen,
Shackleton, Cherry-Garrard, Bird, Worsley oder ... heißen.
[HINWEIS: Bis hierhin kann der
Interessent noch ohne Gefahr lesen - nun aber wird’s konkret.]
Rätselhafte Diebstähle von wichtigem Gerät
und merkwürdige Funde an den unterschiedlichsten Stellen verunsichern
die Verwaltung in MacMurdo; wer steckt dahinter?
Wade trifft bei seinen Nachforschungen in der Station selbst und am
Südpol auf viel Geheimnistuerei und wenig wirkliche Antworten.
Ein Trip mit der begehrenswerten Val, die ihm nicht abgeneigt ist,
führt die beiden zu einem Wissenschaftlerteam, welches die Wirkungen
des Treibhauseffekts auf die Beschaffenheit des Eises untersucht und
dabei auf Spuren eines Millionen Jahre alten Buchenwaldes stößt.
Danach fliegt er zu Carlos‘ Ölbohrern am Roberts Massiv,
wo auch X arbeitet.
Val soll eine Trekking-Gruppe „auf Amundsens
Spuren“ zum Pol führen. Macho-Jack, macht ihr das Leben
dabei schwer, Ta Shu ist dagegen eine wahre Wonne. Beim Aufstieg über
einen Gletscher verlieren sie den Versorgungsschlitten in einer Gletscherspalte.
Kein Problem heutzutage, der Hubschrauber wird sie abholen, doch MacMurdo
meldet sich nicht und auch das GPS-Ortungssystem funktioniert nicht.
Ihre einzige Überlebenschance ist der 100km weite Fußweg
zum Basiscamp der Ölsucher, Mohns Station. Für Jack wird
der Trip zur Tortur, denn sein rechtes Schlüsselbein ist gebrochen.
Die Erklärung für den Funkausfall:
Die sog. Ökotage hat stattgefunden:
Anschläge der radikalen „Umweltschützer“, über
den ganzen Kontinent gestreut. Das Satellitenkommunikationsnetz ist
ausgefallen, die Treibstofftanks von MacMurdo sind verunreinigt worden,
die Öl-Bohrplattform wurde in die Luft gesprengt ...
Carlos, Wade und X, die gemeinsam ein altes Raupenfahrzeug untersucht
hatten, müssen Unterschlupf finden. Auch sie peilen mit ihren
Skidoos Mohns Station an und die Überraschung ist groß,
als sie dort Vals Gruppe treffen.
Ein rudimentärer Funkkontakt ist inzwischen wieder möglich,
doch können alle erst in einigen Tagen abgeholt werden, andere
Rettungsaktionen haben Priorität. Jack geht es aber zunehmend
schlechter. Die Gruppe beschließt, sich mit dem alten Luftkissenfahrzeug,
gesteuert von Carlos und X, auf den Weg zu Shackletons Camp zu machen.
Anfangs geht das gut, doch der Weg eine steile Gletscherzunge herunter
endet im Desaster, die letzten 30km müssen zu Fuß bewältigt
werden. Ein Schneesturm überrascht sie, ihre Situation ist aussichtslos.
Unerwartet kommt Rettung, tauchen unbekannte Luftschiffe
(Blimps) auf, gelenkt von Angehörigen der „Antarktiker“
- einer ca. 1000köpfigen Gruppe von 'Aussteigern‘, die
schon seit Jahren den Kontinent als Wohnort ausgewählt haben
und dort versuchen zu (über)leben.
Die Retter bringen alle zu einem ihrer Camps und sie treffen dort
auf deren charismatische Führerin, die Samin Mai-Lis.
Den Antarktikern kommen die, nicht von ihnen (!) verursachten Anschläge
sehr ungelegen, denn sie müssen nun befürchten, vom Kontinent
vertrieben zu werden. Mai-Lis weiß jedoch, wer dahinter steckt,
und Val, X und Wade werden als Zeugen gebraucht, als die Antarktiker
das 'Piratennest‘ ausräuchern.
Die Radikalos werden aus der Antarktis verbannt. Nachdem den Dreien
ein größeres Camp gezeigt wird, werden sie zurückgebracht.
Senator Chase regt eine Konferenz aller Beteiligten
in MacMurdo an, bevor die Untersuchungen seitens CIA, FBI usw. beginnen.
Auch Mai-Lis und ein Vertreter der Radikalos sind dabei. Das Ergebnis
nach tagelangen Diskussionen ist der Vorschlag für eine, der
aktuellen Situation angepasste Erneuerung des Antarktisvertrages.
Wade fliegt zurück in die Staaten, um dem Senator
beim Wahlkampf zu helfen.
Val beschließt, bei den Antarktikern zu leben.
X wird der Führer einer Genossenschaft von Mitarbeitern des technischen
Hilfsdienstes, die sich nun selbst verwalten wollen.
Zum Abschied sucht Ta Shu für ihn den rechten Feng Shui-Platz
für den Bau einer Blockhütte auf Cape Evans aus.
DIE BESPRECHUNG
Zunächst eine Warnung:
Wer glaubt, in einem SF-Roman haben wissenschaftliche Detailbeschreibungen
und politische Debatten nichts zu suchen, sollte „Antarktika“
gleich aus den Händen legen.
Für die anderen dagegen birgt das Buch ein vielfältiges,
an keiner Stelle langweilig werdendes Potenzial an Möglichkeiten.
Kim Stanley Robinson war sechs Wochen lang selbst in der Antarktis
zu Gast und dieser Roman ist seine Liebeserklärung an den kältesten
und scheinbar unwirtlichsten aller Kontinente.
Die Krimifreunde finden einen aufregenden Thriller mit einer überraschenden
Wendung auf dem Höhepunkt der Spannung.
Wer Liebesromane mag, folge der bezaubernden Dreiecksgeschichte um
Val, X und Wade.
Anhänger von Sachbüchern können viele Informationen
über die geologische Beschaffenheit des sechsten Kontinents herausziehen.
Und historisch Angehauchte?
An vielen Stellen wird die Geschichte von Antarktika geschickt eingewoben
und aus den unterschiedlichen Gesichtspunkten diskutiert. War Scott
ein Held oder nur ein Versager? Warum gab es diese unüberbrückbare
Feindschaft zwischen ihm und Shackleton? War es verwerflich, dass
Amundsens Team seine Schlittenhunde verzehrt hat?
Das wirkt nie belehrend sondern informativ und lehrreich.
Robinson ist zurückgekehrt vom Roten Planeten.
Vielleicht war ein Motiv, dieses Buch zu schreiben, dass der Mars
zu weit weg, dessen Besiedlung zu weit in der Zukunft unserer Gegenwart
liegt. Viel von dem, was er an Theorien über das Überleben
der Menschheit in der Mars-Trilogie ausgebreitet hat, finden wir auch
hier wieder:
-
Eine gemäßigte Forschung
versus brutaler Ausbeutung,
-
die unvermeidbare, weil im System begriffene
Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaftssystemen,
-
die Überlegenheit von genossenschaftlichem
Arbeiten,
-
den Versuch der 'Eingeborenen‘
(s. „Grüner Mars“), ihre Lebensweise einer an sich
lebensfeindlichen Welt anzupassen,
-
die Entwicklung einer sympathischen,
keinesfalls abstrakten, untotalitären Utopie.
Robinson hat sie nicht weiterentwickelt, was ihm vielleicht
manche Kritiker vorwerfen werden, aber er hat seine Ideen auf die
Erde heruntergebracht. Das macht sie greifbarer und erleichtert die
eigene Auseinandersetzung mit ihnen.
Irgendwo im Buch steht - ich glaube, einer der Antarktiker
sagte es - Antarktika stehe stellvertretend für die ganze Erde.
Nun, ob die hier im Neuvertrag vorgestellten Zielsetzungen auch auf
andere Kontinente übertragen werden können, muss doch stark
hinterfragt werden, angesichts des Drucks, den Milliarden von Menschen,
die leben wollen, ausmachen. Für kleine Lebenssysteme mag die
Robinsonsche Utopie passen -eine universale Lösung für die
Probleme Terras ist sie nicht.
Was das Buch aber aufzeigt, sind diskutable Wege für einen humaneren
Weg in die Zukunft, und von daher ist „Antarktika“ vielleicht
Robinsons streitbarster Roman.
Wer sich darauf einlassen kann, wird feststellen, dass das Buch nachwirkt
und die Gedanken des Lesers noch eine lange Zeit bewegt.
Das ist viel für ein Buch ...
„Ah ja. Sehr schöner
Blick.
Jetzt wir kommen zu Ende unserer Zeit zusammen, und ich bitte
um eine Sache von euch, meine Freunde, die lang und treu sind
bei mir geblieben. Wenn meine Übertragung geendet hat,
geht hinaus. Macht einen Spaziergang draußen in frischer
Luft. Wo immer ihr euch befindet auf dem Gesicht dieses Planeten,
es ist ein guter Ort.
Atmet tief den Atem der Welt. Schaut alle zusammen zum Himmel
über euren Köpfen. Fühlt euch beim Gehen; auch
das ist Denken. Fühlt den Wind in eurem Gesicht. Fühlt
die Art, wie ihr Tier seid, im Seelenwind atmend. Wenn unsere
Zeit zusammen gibt euch nicht mehr als diesen Spaziergang,
dann es hat trotzdem noch gut getan.
Nun adieu, meine Freunde, bis zu unserer nächsten Zeit
zusammen.“
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Joachim "Joe the Nighthawk"
Kutzner
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